Samstag, 22. Mai 2021

Guy Mollet und der Weg zu den Römischen Verträgen

In diesem Beitrag stellt Konstantin Grabowski folgenden Aufsatz vor:

Loth, Wilfried (2007): Guy Mollet und die Entstehung der Römischen Verträge 1956/1957; in: integration 30, 3/2007, S. 313-319, online unter: https://www.jstor.org/stable/24223676?seq=1.

Nach der Gründung der Montanunion wurde von den Außenministern der sechs Gründungstaaten das Spaak-Komitee eingerichtet. Die Aufgabe des Komitees war es, Vorschläge für die Schaffung einer Wirtschafts- und Atomgemeinschaft auszuarbeiten. Jedoch erfuhr die Wirtschaftsgemeinschaft in Frankreich keinen Rückhalt. Die französische Regierung stand dem Projekt eines gemeinsamen Marktes kritisch gegenüber, da sich Frankreich vom Zweiten Weltkrieg noch nicht ausreichend erholt hatte (vgl. S. 313).

Franz-Josef Strauß, der Sonderbeauftragte der deutschen Regierung, lehnte eine Atomgemeinschaft ab. Vielmehr war er an einer Kooperation mit den Amerikanern und den Briten interessiert, die in der Atomtechnik weitaus fortgeschrittener waren (vgl. S. 314).

„In einer Europäischen Atomgemeinschaft sah er ein Unternehmen, das in erster Linie Frankreich zugutekommen sollte. Sich dafür herzugeben, bestand aus seiner Sicht für die Bundesrepublik keine Veranlassung“ (S. 314).

Eine Einigung zwischen den beiden Konfliktpunkten war nicht in Sicht und mit der Regierungskrise 1955 in Frankreich wurden die Verhandlungen im Komitee bis auf weiteres ausgesetzt. Der neue Ministerpräsident von Frankreich wurde Guy Mollet. Und „Mollet wusste, dass die Überwindung der europapolitischen Krise die wichtigste Aufgabe war, vor der seine Regierung stand […]“ (S. 315).

Für die französische Regierung bestand kein Zweifel, dass ein erneutes Scheitern eines Vertrages, wie der EVG, ihre Kredibilität vernichten würde und sie sich nicht länger an dem Projekt Europa beteiligen könnten (vgl. S. 315). Sie mussten demnach eine geschickte Verhandlungsstrategie verfolgen, um sich eine Mehrheit im Parlament zu sichern und zugleich eine stetige Verständigung mit den Partnern zu wahren. Die deutsche Regierung stellte dazu die Forderung, dass sie der Atomgemeinschaft nur zustimmen würden, wenn man sich auch auf eine Wirtschaftsgemeinschaft einigen würde.

„Die Strategie, die die Mollet-Equipe in dieser Situation entwickelte, bestand kurz gesagt darin, zunächst auf Durchsetzung des Euratom-Vertrags zu drängen und dann auf der Grundlage dieses Erfolgs in der französischen Öffentlichkeit einen Meinungsumschwung zugunsten des Gemeinsamen Marktes herbeizuführen“ (S. 315)

Nur zwei Wochen nach Amtsbeginn gelang es Mollet, den Stillstand zu unterbrechen und Bewegung in die Verhandlungen zu bringen. Jedoch war es im Interesse der Franzosen, die Atomgemeinschaft vor der Wirtschaftsgemeinschaft abzuschließen. Um die nötige Zustimmung im Parlament zu erlangen, kam es 1956 zu einer Parlamentsdebatte, in der Mollet explizit darauf hinwies, dass sich Frankreich die Option zum Bau von Atomwaffen offenhalte. Zusätzlich dazu pochte die französische Regierung auf eine individuelle Repräsentation in der internationalen Atombehörde.

Mollet konnte sich für weitere Verhandlungen in Bezug auf die Atomgemeinschaft eine Mehrheit sichern. Frankreich drängte nun auf eine schnelle Abwicklung beider Verträge zu deren Gunsten (vgl. S. 316). Damit überschritten sie jedoch ihre Position gegenüber ihren Verhandlungspartnern und es kam zu keiner Einigung zwischen den deutschen und französischen Verhandlungsdelegationen (vgl. S. 316-317). Die Zukunft der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft war daher ungewiss.

Der Autor Wilfried Loth sieht drei entscheidende Faktoren für die Bewältigung der Krise. Der erste war ein Eingreifen Adenauers, der glaubte, dass die Wirtschaftsgemeinschaft entscheidend für die Sicherheit war (vgl. S. 317). „Der Radford-Plan zur Reduzierung der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa hatte ihm im Sommer 1956 die Gefahr einer amerikanisch-sowjetischen Verständigung auf Kosten der Europäer vor Auge geführt“ (S. 317). Am 6. November fuhr Adenauer für Gespräche nach Paris.

Den zweiten Faktor bildete die an diesem 6. November erteilte Zusage Mollets zu einer „Kompromissformel“ (S. 317). Beide Länder passten ihre Standpunkte an den jeweils anderen an. Mollet ging hierzu auch einige Risiken ein. Er erkannte zudem mit Blick auf die Suez Krise die Chancen einer engeren Zusammenarbeit innerhalb Europas, einer Unabhängigkeit gegenüber den USA sowie die Dringlichkeit einer Europäischen Atomgemeinschaft. Die Nutzung dieser Chancen ergibt den dritten Umstand (vgl. S. 318).

„Angesichts der quälenden Abhängigkeit vom arabischen Erdöl und der offenkundigen Distanzierung Adenauers von der amerikanischen Führungsmacht erschien ‚Europa‘ zum ersten Mal seit der Zuspitzung der EVG-Krise wieder als Hort der Unabhängigkeit“ (S. 318).

Die Verträge, die am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet wurden, legte Mollet unverzüglich der Nationalversammlung vor, um einem Aufkommen einer möglichen Oppositionsbewegung entgegenzuwirken (vgl. S. 318). Nach dem Umsturz Mollets arbeitete dieser auch weiterhin an einer raschen Ratifizierung der Römischen Verträge, was am 9. Juli 1957 schließlich gelang. Zusammenfassend erscheint bei Betrachtung der europäischen Integration sowie der erfolgten Ausführungen Loths Zitat sehr treffend:

„Erfolge haben immer viele Väter. Für die europäische Einigung freilich gilt, dass sie nur vorankam, wenn sich die Spitzen der französischen und der deutschen Regierung auf konkrete Schritte verständigten, die Kompromisse beinhalteten“ (S. 313).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen