Montag, 17. Mai 2021

Rechtsentwicklung zum transnationalen Gemeinwesen

In diesem Beitrag stellt Anna-Maria Hänßler folgenden Aufsatz vor:

Müller-Graff, Peter-Christian (2007): Primärrechtliche Entwicklungsschritte der Gemeinschaftsintegration zu einem transnationalen Gemeinwesen; in: integration 30, 4/2007, S. 407-421, online unter: https://www.jstor.org/stable/24223539.

Der Aufsatz von Müller-Graff befasst sich mit der Entstehung des historisch einzigartigen Primärrechts der EU, welches sich aus einem völkerrechtlichen Vertrag entwickelt hat. Der Autor betont, dass diese Entwicklung nicht als revolutionär bezeichnet werden kann, da sie sich immer auf bestehendes Recht berief und damit legitimiert war.

Aus diesem Grund konstatiert Müller-Graff acht Mutationen, die die Entstehung des neuartigen Primärrechts der EU förderten (vgl. S. 409). Diese acht rechtlichen Veränderungen im Zeitverlauf der europäischen Integration verweisen auf einen schrittweisen Richtungswechsel hin zu einem transnationalen Gemeinwesen (vgl. S. 421).

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951/52), die vor allem zum Zweck der Friedenssicherung gegründet worden war, basierte auf einem völkerrechtlichen Vertrag. Die Verträge beinhalteten die Errichtung einer Hohen Behörde, die seitens der Mitgliedstaaten supranationale Befugnisse erhielt und von Müller-Graff als erste Mutation verstanden wird (vgl. S. 409). Rechtlich öffneten sich die Mitgliedstaaten damit in Form der Zustimmungsgesetze und unterwarfen sich so den Maßnahmen einer außerstaatlichen Behörde.

Darüber hinaus erkennt der Autor in der Änderung der formalen Gleichheit aller Mitgliedstaaten eine weitere Mutation. Laut EGKS-Verträgen war die Stimmgewichtung an der Stärke der Kohle-und Stahlproduktion gemessen, während der EWG-Vertrag und der EAG-Vertrag weitere Aspekte in die Stimmgewichtung in Bezug auf die Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit einfließen ließen (z.B. Bevölkerungsanzahl) (vgl. S. 410).

Das Entscheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit wurde durch die Einheitliche Europäische Akte in vielen Bereichen erweitert, was neben weiteren Reformverträgen wie Maastricht, Amsterdam und Nizza die Souveränität der Mitgliedstaaten später zunehmend einschränkte (vgl. S. 410).

Die zweite justizielle Mutation trat dem Autor nach ab den Jahren 1963/64 durch die Rechtsprechung des EuGH auf (vgl. 414). Dieser trieb den Fortschritt in der Trennung vom allgemeinen Völkerrecht hin zur primärrechtlichen Supranationalität durch sein Verständnis von Recht voran (vgl. S. 414). Vor allem zwei Urteile sind hierfür repräsentativ. Das ‘Van Gend& Loos- Urteil‘ und das ‘Costa/ENEL-Urteil', welche die Marktgrundfreiheiten ausweiteten (vgl. S. 414f.). Beide Urteile höhlten das europäische Recht aus, indem sie die Wirtschaftssubjekte ermächtigten, europäisches Recht vor den nationalen Gerichten einzuklagen und das Gemeinschaftsrecht als vorrangig anzuwendendes Recht festsetzten (vgl. S. 414f.).

Dieser rechtlichen Erweiterung räumte das Bundesverfassungsgericht nach anfänglicher Einschränkung (Solange-I-Beschluss) seine Zustimmung ein (Solange-II-Beschluss, Maastricht-Urteil). Darüber hinaus bleibt dem Bundesverfassungsgericht die Überprüfung europäischer Rechtsprechung grundsätzlich durch das Grundgesetz (Art. 23 GG) und den EG-Vertrag (Art. 220 EGV, Artt. 220 ff. EGV) verweigert (vgl. S. 416). Dem EuGH kommt durch Art. 220 EGV die Berechtigung zu, „bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages das Recht zu wahren, mit anderen Worten auch allgemeine Rechtsprinzipien selbst zu formulieren“ (S. 416). Dieses erweiterte Rechtsverständnis dehnte fortan das Primär- und Sekundärrecht aus (vgl. S. 416).

Die dritte primärrechtliche Mutation hin zu einer transnationalen Gemeinschaft vollzog sich in den Jahren 1970/71 durch den Eigenmittelbeschluss. Durch diesen Beschluss konnte die finanzielle Eigenständigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten gewährleistet werden. Die Eigenfinanzierung, beispielsweise durch Agrarabschöpfungen oder Zölle im Rahmen des Gemeinsamen Zolltarifs (ausgenommen war das Erheben von Steuern), konnte sich so gegenüber der bis dahin vorgenommenen Beitragsfinanzierung durch die Mitgliedstaaten durchsetzen (vgl. S. 417f.). Dank dieses Wandels des Haushaltsverfahrens kamen dem Europäischen Parlament weitreichendere Befugnisse zu (vgl. S. 418).

Eine weitere primärrechtliche Mutation erfolgte durch die Änderung zur Direktwahl (1979) des Europäischen Parlaments. Dies war ein weiterer Schritt in Richtung transnationalen Gemeinwesens und verstärkte die Legitimation des Parlaments im Allgemeinen, aber auch hinsichtlich der Rechtsetzung. Diese Neuerung bot Potential für weitere Ermächtigungen des Parlaments durch Primärrechtsänderungen (vgl. S. 418).

Die fünfte Mutation wird von Müller-Graff darin gesehen, dass die Gemeinschaft zunehmend nicht- wirtschaftliche Berechtigungen erhielt. Den Auftakt für diese Entwicklung bot vor allem die Einheitliche Europäische Akte in den Jahren 1986/87, welche umweltpolitische Ziele und Normen aufnahm (vgl. S. 418). Da sich die Kompetenzverteilung im Bereich der Umwelt laut EEA nicht ausschließlich auf die Gemeinschaft bezog, wurde das Verhältnis zwischen Kompetenzen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt thematisiert (vgl. S. 418f.).

Hier galt das Subsidiaritätsprinzip, welches das föderative Wesen der Gemeinschaft erkennbar machte, wodurch sich die Wahrnehmung der Gemeinschaft in „der öffentlichen Diskussion als ‚staatsähnlich‘ “ (S. 419) veränderte. Die Befugnisse der Gemeinschaft über Bereiche, welche den europäischen Wirtschaftsmarkt nicht erweiterten, wurden vor allem durch den Vertrag von Maastricht verstärkt. Beispielhaft können die Verbraucherpolitik, die Gesundheitspolitik und die partielle Gleichstellungspolitik genannt werden.

Eine weitere Mutation fand durch die Bildung eines allgemein Ziel- und Wertekatalogs im Vertrag von Maastricht (1991/92) statt, welcher neben gemeinschaftlichen Bereichen auch außergemeinschaftliche Bereiche einbezog (vgl. S. 419). Dieses Zusammenwirken sollte unter institutionellem Rahmen festgehalten werden (vgl. S. 420). Die in der Einheitlichen Europäischen Akte festgesetzte Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) hatte immerhin die Zusammenarbeit über die Einrichtung des Europäischen Rates vertraglich geregelt, fand aber keine konkrete institutionelle Einbindung in die Gemeinschaft. Der Vertrag von Maastricht ermöglichte dann eine Verknüpfung der Politikfelder ‘Wirtschaft und Währung‘, ‘Justiz und Inneres‘, ‘Äußeres und Sicherheit‘. Diese Verknüpfung schenkte der „Erfordernis konstitutioneller Gebundenheit“ (S. 420) und der staatsähnlichen Auffassung Auftrieb (vgl. S. 420).

Die siebte Mutation hin zu einem transnationalen Gemeinwesen war die Einführung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht. Diese gewährt den UnionsbürgerInnen ein „wohnsitzgebundenes Teilhaberecht“ (S. 420) an Rechten des jeweiligen Mitgliedstaates. Dieses Recht findet sich vor allem deutlich in der Teilhabe an Kommunalwahlen umgesetzt (vgl. S. 420).

Die achte und (bis zum Erscheinen des Aufsatzes im Jahr 2007) letzte Mutation, die eine primärrechtliche Strukturveränderung mit sich brachte, wurde durch den Vertrag von Nizza (2001/03) eingeleitet. Hierbei wurde die Gleichwertigkeit aller UnionsbürgerInnen festgeschrieben. Jedem Mitglied des Rates wurde das Recht zugesprochen, bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit die Überprüfung anzuordnen, welcher Anteil der UnionsbürgerInnen durch die Entscheidung repräsentiert ist. Dabei ist die Entscheidung bei einem Mindestwert von 62% gültig und damit angemessen (vgl. S. 421).

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