Freitag, 7. Mai 2021

EU-Geschichte: Gründungssituation

In diesem Beitrag stellt Raphael Conrad folgenden Aufsatz vor:

Gehler, Michael (2019): Die Gemeinschaft der Gemeinschaften. Entstehung, Ergebnisse und Perspektiven im Zeichen von 60 Jahre Römische Verträge; in: Nischke, Peter (Hrsg.): Gemeinsame Werte in Europa? Stärken und Schwächen im normativen Selbstverständnis der Europäischen Integration, Nomos, S. 15-28 (online unter: https://doi.org/10.5771/9783845291628).

Michael Gehler (Professor am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim) stellt in seinem Aufsatz die Entwicklung der Europäischen Union vor dem Hintergrund der Römischen Verträge von 1957 dar. Im Rückblick präsentiert er die Entstehungsgeschichte mit den zentralen innereuropäischen und äußeren Einflussfaktoren sowie die Unterstützer*innen und Widersacher der europäischen Idee. Gleichzeitig versucht Gehler eine Verbindung zwischen den Verträgen, dem gegenwärtigen Zustand der EU und ihrer Zukunft zu knüpfen. Zentral ist in diesem Zusammenhang die titelgebende Sichtweise des Autors, dass es sich um eine „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ handelt.

Gehler ordnet den Römischen Verträgen, die am 25. März 1957 von Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden unterzeichnet wurden, verschiedene außen- und innenpolitische Ereignisse zu. Der Fokus liegt dabei auf Frankreich und Deutschland. So sei in Frankreich mit dem Sturz von Robert Schuman im Jahr 1952 ein bedeutsamer Verfechter der Europapolitik weggefallen. Begünstigt hat „die Grundsatzentscheidung der französischen Politik neben der Atomgemeinschaft für den „Gemeinsamen Markt“ zu optieren [...]“ jedoch die Verschärfung der Suez-Krise 1956 und damit einhergehend Frankreichs drohender außenpolitischer Gesichtsverlust. (S. 17).

Auf der deutschen Seite sieht der Autor vor allem die Einigung in Bezug auf die staatliche Zugehörigkeit des Saarlands als wichtigen Meilenstein für die weitere Entwicklung. In Bezug auf die Agrarpolitik sprach sich die Bundesregierung gegen Dirigismus aus, was keineswegs mit Frankreichs supranationalen Bestrebungen harmonierte (vgl. S. 16). Das spiegeln die Verträge wider. „Statt die Entscheidungen des Ministerrats an die Initiativen der Kommission zu binden und mit Mehrheit zu treffen, wie es die Niederländer vorhatten, wurde eine Übergangszeit für eine große Zahl von Entscheidungen an einstimmige Voten des Ministerrats gebunden." (S. 16f.)

EWG und EURATOM, die Vertragsbestandteile der Römischen Verträge waren, bezeichnet Gehler als „gemäßigt supranationale Gemeinschaften [...].“ (S. 17). Die Tatsache, dass EURATOM im Laufe der Zeit nicht die gleiche Entwicklung wie die EWG durchlief, führt Gehlen auch darauf zurück, dass Frankreich einer nuklearen Aufrüstung der jungen deutschen Bundesrepublik kritisch gegenüberstand.

Trotz aller Widrigkeiten wird jedoch deutlich, weshalb in der Retrospektive von ‚der Gemeinschaft der Gemeinschaften‘ die Rede ist. Mit Inkrafttreten der Verträge am 1. Januar 1958 kamen die sechs Unterzeichnerstaaten ihren Zielen in Bezug auf den freien Warenverkehr, die Binnenzölle und die Aufhebung von Mengenbeschränkungen näher. Als Fernziele macht Gehler „Wirtschaftswachstum, Lebensstandardsteigerung und einen immer engeren politischen Zusammenschluss“ aus. (S. 18). Er stellt jedoch heraus, dass dieser Zusammenschluss von Menschen verantwortet und weiterentwickelt wurde. So seien die höheren Beamten der EWG-Kommission wesentliche Triebkräfte gewesen, auch wenn sie oftmals erst durch ihre Arbeit „europäisiert“ worden seien.

„Der Zusammenhalt und der Eindruck, etwas gemeinsam aufzubauen und erschaffen zu haben, bildeten einen Korpsgeist, der mit Loyalität der Institution und ihren Zielen und Werten gegenüber eng verbunden war.“ (S. 21).

Im Ausland wurden die europäischen Bestrebungen sehr unterschiedlich aufgenommen. Die Förderung der US-Regierung, insbesondere seitens des Präsidenten, wurde sowohl in den eigenen Kreisen als auch von der Opposition kritisch begleitet. Der Grund liegt dem Autor nach im wirtschaftlichen Erstarken Europas, welches in Konkurrenz mit dem Gewinn durch eine stabile europäische Sicherheitslage gesehen wurde (vgl. S. 21). Der Ambivalenz der USA stand eine klare Ablehnung des Vorhabens vonseiten der UdSSR entgegen.

Innerhalb Europas erhielten die Römischen Verträge Gegenwind durch die Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Insbesondere Großbritannien versuchte auf diese Weise, die EWG-Gründung zu torpedieren, um eigene Interessen zu wahren (vgl. S. 22). Den Erwartungsdruck an die EWG von Seiten der Bevölkerung beschreibt Gehlen als hoch:

„Die europäischen Gesellschaften verlangten neben materiellem Wohlstand höhere soziale Sicherheit, bessere gesundheitliche Versorgung und entsprechende Bildungsangebote.“ (S. 23f).

Da die Nationalökonomien eigenständig blieben, stellt Gehlen in diesem Punkt eine durchwachsene Bilanz aus. In seinem Resümee legt er nochmals seine Sicht auf die Gründungsmotivation der Europäischen Union und ihren ‚Vorgängergemeinschaften‘ bzw. ihren ‚Teilgemeinschaften‘ offen. Zum einen sei dies die Einhegung Deutschlands, zum anderen habe die EWG jedoch auch der Rettung der europäischen Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg gedient (vgl. S. 25). Mit Blick auf die Globalisierung sei dies auch heute noch zentral. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Gemeinschaften, zu denen auch die Atom- und Wirtschaftsgemeinschaft gehören, schlägt der Autor vor, durch die Weiterentwicklung bestehender und zukünftiger Politikfelder, „eine Union der Gemeinschaften [zu] bilden.“ (S. 26).

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