Dienstag, 4. Mai 2021

Krisen und europäische Integration

In diesem Beitrag stellt Roman Strauß folgenden Aufsatz vor:

Schimmelfennig, Frank (2015): Mehr Europa – oder weniger? Die Eurokrise und die europäische Integration; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 52/2015, S. 28-34 (online unter https://www.bpb.de/apuz/217310/mehr-europa-oder-weniger-die-eurokrise-und-die-europaeische-integration?p=all)

Frank Schimmelfennig widmet sich in diesem Beitrag der Zukunft der fortwährend Krisen ausgesetzten Europäischen Union: Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit. Er nimmt die Eurokrise und ihre Folgen zum Anlass, um die grundsätzlichen Konflikte und Debatten über Richtung, Möglichkeiten und Grenzen der europäischen Integration aufzuzeigen und zu analysieren. Infolgedessen definiert er die verschiedenen Positionen in der Debatte in der Dimension „mehr oder weniger Europa“ sowie in der politischen „Links-Rechts-Dimension“ (vgl. S. 28).

„Braucht es mehr Europa, um Stabilität wiederherzustellen? Und wenn ja, wie soll dieses „Mehr“ aussehen? Oder zeigt die Krise nicht vielmehr, dass die europäische Integration zu schnell und zu weit gegangen ist und daher „weniger Europa“ angesagt wäre?“ (S. 29)

Um zu verstehen, unter welchen Bedingungen es zu mehr oder weniger Europa kommt, stellt Schimmelfennig drei integrationstheoretische Perspektiven vor, anhand derer er die Analyse der Eurokrise und ihren Folgen vornimmt: Intergouvernementalismus, Neofunktionalismus und Postfunktionalismus. Seine eigene These lautet,

„[…] dass wir als Ergebnis der Eurokrise trotz massiver Politisierung und trotz eines regierungsdominierten Krisenmanagements deutlich „mehr Europa“ sehen“ und dass dies den Erwartungen des Neofunktionalismus entspreche (S. 29).

Der Intergouvernementalismus besagt, dass europäische Integration von den nationalen Regierungen vorangetrieben und kontrolliert wird. Diese vereinbaren Integration lediglich in den Bereichen, die in ihrem Interesse liegen und „besser gemeinsam als im nationalen Alleingang zu bearbeiten sind“ (vgl. S. 29). Zudem setzen sich in der Ausgestaltung der europäischen Regeln die Nationalstaaten durch, die die größte Bevölkerung (Verhandlungsmacht) vorweisen können. Supranationale Organisationen sind nur dazu da, um die Zusammenarbeit zu stabilisieren und die Einhaltung von Regeln zu überwachen, ihr Wirken und die weitere Integrationsentwicklung wird von den Mitgliedstaaten kontrolliert.

Die Theorien des Neo- und Postfunktionalismus stimmen in dem Punkt zu, dass die ersten Integrationsschritte meistens von den Regierungen angestoßen werden. Ihrer Annahme nach bringt diese anfängliche Integration jedoch unvorhergesehene und unkontrollierbare Entwicklungen in Gang, welche den Handlungsspielraum der Regierungen beschränken und sie zu unerwünschten Integrationsschritten zwingen (vgl. S. 29).

Der Neofunktionalismus sieht demnach eine Reihe von „Spillover-Prozessen“, die systematisch zu mehr Europa führen würden: Einerseits schafft und stärkt die Integration supranationale Organisationen, die unabhängig von den Mitgliedsregierungen Interesse an weiterer Integration besitzen, andererseits führt die Integration zu neuen und noch stärkeren internationalen Verflechtungen und Abhängigkeiten (vgl. S. 29f).

Die anfängliche Integration greift oftmals zu kurz und weist „Konstruktionsmängel“ auf, weshalb sie reformiert werden muss. Die nationalen Regierungen gehen die Schritte mit, da es für sie nachteiliger wäre, beim Status quo zu verharren oder Zuständigkeiten zu renationalisieren – folglich ist eine Spirale in Form der genannten „Spillover-Prozesse“ losgetreten (vgl. S. 30).

Der Postfunktionalismus hebt sich vom Neofunktionalismus ab, indem er nicht „Spillover-Prozesse“ sieht, sondern eine negative Eigendynamik mit der „Politisierung“ der europäischen Integration als zentralen Mechanismus (vgl. S. 30). Die europäische Integration erstrecke sich seit den 1990er Jahren zunehmend auf Kernbereiche staatlicher Souveränität und nationaler Identität, greife tiefer in die Lebensumstände der Bürger*innen ein als je zuvor und produziere so wirtschaftliche und kulturelle Verlierer. Der Integrationsfortschritt werde untergraben und damit funktionale Problemlösungen erheblich erschwert (vgl. S. 30). Die zunehmende Politisierung beschränkt den europapolitischen Handlungsspielraum und bremst die neofunktionalistische Integrationsdynamik:

„Der Integrationsprozess stagniert; es kommt zu differenzierter Integration, weil einzelne Mitgliedstaaten sich zusätzlicher Integration verweigern; und es drohen sogar Integrationsrückschritte“ (S. 31).

Schimmelfennig beschreibt, dass man in der Eurokrise alle diese Triebkräfte europäischer Integration besonders sehen konnte und dass trotz Politisierung und regierungsdominiertem Krisenmanagement im Ergebnis dennoch eine deutliche Stärkung der europäischen Integration zu sehen sei (vgl. S. 31).

Vertreter des neuen Intergouvernementalismus argumentieren, dass intergouvernementale Organe die Koordinierung der Rettungsprogramme und der Wirtschaftspolitik selbst in die Hand nahmen und dadurch die klassische Gemeinschaftsmethode über die EU-Organe umgangen wurde. Sie führten weiter aus, dass diese Reformen nicht zu „weniger Europa“ führten, sondern vielmehr deutlich machen würden, dass mehr Integration nicht unbedingt mehr supranationale Vergemeinschaftung bedeuten müsse (vgl. S. 32).

Aus Perspektive des Neofunktionalismus sind diese Befunde nicht falsch, bloß sind sie nicht weit genug ausgeführt: Zum einen müssen sie im „Kontext eines Spillover-Prozesses“ gesehen werden, zum anderen hätte neben der Intensivierung intergouvernementaler Politikkoordinierung auch die Stärkung supranationaler Organisationen stattgefunden (vgl. S. 32). Der Hintergrund der Krisensituation entspreche den erwarteten unbeabsichtigten Folgen und Lücken vorhergehender Integration. Vor der Eurokrise fehlten nämlich sämtliche wirksame Regeln und Mechanismen zur Rettung oder Abwicklung „systemrelevanter“ Banken und zur Rettung oder geordneten Insolvenz überschuldeter Staaten (vgl. S. 32).

„In dieser Situation standen die Euroländer vor der Wahl, entweder die überschuldeten Länder zu unterstützen und die Eurozone stärker zu integrieren oder aber den Bankrott der überschuldeten Länder und ihr Ausscheiden aus der Eurozone hinzunehmen.“ (S. 32)

Sie entschieden sich für mehr Integration und so sehen wir im Ergebnis trotz starker Politisierung und ungeachtet der regierungsdominierten Krisenpolitik „mehr Europa“, trotz der Verhandlungssituation des „Feiglingsspiels“ ist ein Kompromiss in letzter Minute entstanden. Die Euroländer entwickelten nach Schimmelfennig ergo ein „[…] überragendes gemeinsames Interesse an der Rettung und Konsolidierung der Eurozone“ (S. 32).

Parallel zur Eurorettung entwickelte sich eine Debatte über die notwendigen weiteren Reformen der EU, da alle politischen Akteure um die Tatsache wüssten, dass die Reparaturen, die die Regierungen und die EZB unter dem Druck der Krise an der Konstruktion der Währungsunion vorgenommen haben, nicht ausreichend sind (vgl. S. 33).

Neben der „mehr oder weniger Europa“-Dimension verweist Schimmelfennig auf das „Links-Rechts-Schema“, das auch im staatlichen Rahmen die wichtigste Dimension der Parteipolitik sei. Das Schema verläuft zwischen denen, die auf fiskalpolitische Disziplin und ökonomische Anpassung setzen (rechts), und denen, die die Währungsunion durch wohlfahrtsstaatliche Komponenten ergänzen wollen (links). Die sozialdemokratischen und grünen Parteien sind generell aufgeschlossener für ein „soziales Europa“ als die Parteien der rechten Mitte.

Schimmelfennig zeigt eine weitere spannende Trennlinie auf in Bezug auf die ökonomische Situation der Staaten: Unabhängig von der Parteiprogrammatik sind die wirtschaftsstarken und weniger verschuldeten Euroländer eher für eine Stabilitätsunion, während sich die wirtschaftlich schwächeren Staaten stärker für eine Transferkomponente einsetzen (vgl. S. 33).

Interessant nach Schimmelfennig ist, dass innerhalb der Eurozone unter den Regierungen niemand explizite Forderungen nach „weniger Europa“ stellt, während sich die Geister bei den Vorstellungen von „mehr Europa“ scheiden (vgl. S. 33). Diesen Vergleich führt er anhand der damaligen Reformvorschläge Frankreichs und Deutschlands aus.

Während Frankreich für einen „Euro-Kommissar“ warb, der mit weitreichenden Befugnissen in die Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik sowie eigenem ordentlichen Budget ausgestattet ist, um wirtschaftliche Reformen in den Euroländern und Ungleichgewichte zwischen ihnen abzufedern, sprach sich Deutschland ebenfalls für die Einrichtung eines „Haushaltskommissars“ aus, welcher allerdings nur die Kontrolle der nationalen Haushalte und Schuldenaufnahme entsprechend den Vorgaben des Fiskalpaktes erhalten würde. Zudem sprach sich Deutschland gegen eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden oder Bankenrisiken aus und forderte eine Insolvenzordnung für Euroländer (vgl. S. 34).

Auch wenn die Positionen der Reformdebatte für sich genommen schlüssig sind, erscheint ihre politische Umsetzung höchst problematisch. Ein geplanter Umbau der Währungsunion zu mehr oder weniger Europa stößt an enge Grenzen der Machbarkeit und Zustimmungsfähigkeit. Zum einen sind die Euroländer zu stark miteinander verflochten, um die Währungsunion ohne erhebliche Kosten zurückzufahren, zum anderen würden sich wohl kaum Mehrheiten für einen umfassenden Ausbau finden lassen, zu unterschiedlich seien die Interessenlagen und Auffassungen der Gesellschaften und Regierungen (vgl. S. 34). Daher schlussfolgert Schimmelfennig:

„Wenn die bisherige Integrationsentwicklung eine Richtschnur vorgibt, dann bleibt „Durchwursteln“ der vorherrschende Modus der Reform: durch die Krise erzwungene kleine, mühsame und für sich genommen unzureichende Schritte anstelle der großen Lösung.“ (S. 34)

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