Montag, 19. Juli 2021

Demokratie und Krisenmanagement in der Finanz- und Schuldenkrise

In diesem Beitrag stellt Yutian Leiyang folgenden Aufsatz vor:

Fischer, Thorben (2017): Die Demokratiedefizite des Krisenmanagements in der europäischen Finanz- und Schuldenkrise; in: Zeitschrift für Politik 64, 4/2017, S. 411-436, online unter: https://www.jstor.org/stable/26429621.

Die europäische Finanz- und Schuldenkrise verursachte ein schweres Legitimität- und Demokratiedefizit. Kritisiert wird das europäische Krisenmanagement, welches sich um die Stabilisierung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) kümmert. Die Gründe, welche das Legitimität- und Demokratiedefizit der EU verstärken, sind vielfältig.

Manche beschuldigen den „Neuen Intergouvernementalismus“ mit dem Europäischen Rat als zentralem Akteur, andere den „Neuen Supranationalismus“ mit den supranationalen europäischen Organen wie der Europäischen Zentralbank (EZB). Ebenso werden ein „verschärfte[r] Exekutivföderalismus oder eine zu starke(…) Dominanz von technokratischen Akteure[n] (EZB, Europäische Kommission)“ in Erwägung gezogen (S. 411).

Auf europäischer Ebene kann eine demokratische, legitime Politik nur bestehen, wenn diese mit ausreichenden Beteiligungs- und Kontrollmechanismen seitens der Bevölkerung versehen wird. Ebenso sollten die Wähler*innen repräsentiert werden.

Im ersten Abschnitt beleuchtet Fischer die Struktur und Maßnahmen des europäischen Finanz- und Krisenmanagements zwischen aktiv und inaktiv sowie die Regierungsdimensionen Intergouvernementalismus und Supranationalismus. Des Weiteren werden die Machtbefugnisse der Institutionen hinsichtlich der Finanz- und Schuldenkrise analysiert. Im letzten Abschnitt werden Vorschläge diskutiert, welche die demokratische Legitimität bezüglich der WWU verbessern können.

Systematisierung des Krisenmanagements in der europäischen Finanz- und Schuldenkrise

Um den Supergau zu verhindern und die WWU zu schützen, wurden eine Vielzahl an Maßnahmen auf europäischer Ebene beschlossen und umgesetzt (S. 413ff):

  • Das Rechtspaket Sixpack beinhaltet eine Neuausrichtung der Zielwerte bzgl. der Schuldenrückführung. Der Zielwert richtet sich nach der Schuldenbegrenzung von 60% des BIP eines EU-Mitgliedslandes. Ein weiteres Ziel ist die Herstellung eines ausgeglichenen Haushaltes innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens und schließlich wurde auch ein Sanktionsverfahren eingeführt, sollten diese gesetzten Ziele nicht eingehalten werden. Ebenso wurde eine Instanz auf europäischer Ebene eingesetzt, welche zur Überwachung und Kontrolle dient.
  • Der Fiskalvertrag verpflichtet die teilnehmenden Mitgliedsstaaten, die oben genannten Regeln in nationales Recht umzusetzen.
  • Der Twopack knüpft am Sixpack an und beinhaltet die Haushaltsüberwachung und die wirtschaftliche Steuerung.
  • Das Europäische Semester ist ein sechsmonatiger Prozess, welcher die Wirtschafts- und Haushaltspolitik überwacht. Das Verfahren des Europäischen Semesters erlaubt ein frühzeitiges und präventives Eingreifen, sollten Unstimmigkeiten in nationalen Haushaltsplänen entstehen, bevor sie vom nationalen Parlament der EU-Mitgliedsstaaten verabschiedet werden.
  • Der Euro-Plus-Pakt ist eine freiwillige Vereinbarung zur wirtschaftlichen Koordinierung zwischen den Staaten der Eurozone und anderen EU-Mitgliedsstaaten. Sie hat das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit sowie eine langfristige Beständigkeit der öffentlichen Finanzen aufrechtzuerhalten.
  • Die Europäische Bankenunion ist eine europäische überstaatliche, zentrale Bankenaufsicht. Sie beruht auf drei Säulen. Die erste Säule entspricht einer gemeinsamen Bankenaufsicht in der Eurozone, die zur Stabilität des Finanzsystems in der Union sorgen soll. Die zweite Säule verhindert, dass die Gemeinschaft der Steuerzahler für den Schaden der Banken aufkommen soll, wenn diese bankrott geht.
  • Geldpolitische Maßnahmen sollen den reibungslosen Ablauf der Ankaufprogramme von Staatsanleihen im Euroraum sicherstellen und die Funktionsfähigkeit des Europäischen Finanzsystems gewährleisten.
  • Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) soll für finanzielle Stabilität in der gesamten Euro-Währungsunion sorgen und ist ein Teil des Euro-Rettungsschirms. Sie wurde durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ersetzt und kümmert sich um überschuldete Mitgliedsstaaten der Eurozone mittels Kredite und Bürgschaften.

Diese Maßnahmen können nach drei Kriterien gegliedert werden, welche zur Analyse der demokratischen Legitimitätsdefizite genutzt werden. Das erste Kriterium befasst sich mit der Zuordnung dieser Maßnahme zu bestimmten Politikbereichen. Sixpack, Twopack und Fiskalvertrag dienen der Überwachung der nationalstaatlichen Finanz- und Haushaltspolitik. Das Europäisches Semester und der Euro-Plus-Pakt stärkt die wirtschaftspolitische Steuerung auf europäischer Ebene. Die Europäische Bankenunion ist Teil des neuen Banken- und Finanzmarktregulierungssystems. Das ESM dient der Vergabe von Finanzhilfen.

Das zweite Kriterium kategorisiert „[…] die Maßnahmen nach ihrer Funktion bei der Krisenbewältigung“ (S. 415) und differenziert zwischen aktivem und reaktivem Krisenmanagement. Aktives Krisenmanagement bedeutet die präventive Arbeit und reaktives die Bearbeitung und Lösung von aktuellen Krisen.

Das dritte Kriterium beschäftigt sich mit den „Governance-Dimension[en] der Maßnahmen“ (S. 416), d.h. ob eine Maßnahme intergouvernemental oder supranational ist. Des Weiteren wird zwischen Politikformulierung und Politikumsetzung unterschieden. Bei ersterem gilt die Möglichkeit, das Europäische Parlament in die Gesetzgebung mit einzubeziehen. Letzteres bezieht sich auf die Steuerungs- und Entscheidungskompetenzen.

Hierbei kann unterschieden werden, ob die Umsetzung von Maßnahmen auf zwischenstaatliche Kooperationen (bspw. Europäischer Rat) basiert, ein supranationales Organ dafür zuständig ist ,wie die EZB, oder die Umsetzung durch eine Kombination von intergouvernementaler und supranationaler Governance erfolgt.

Legitimitätsdefitizie des europäischen Krisenmanagements

Hierbei wird unterschieden zwischen zwei Positionen. Bei der ersten Position legitimiert sich die EU als zwischenstaatliches Regulierungsregime durch die vielen „checks and balances“ im Entscheidungsprozess. Bei der zweiten Position wird die EU als Mehrebenensystem gesehen, sie verfügt jedoch über keine legitime Herrschaftsausübung mittels gesellschaftlicher (bspw. europäischer demos, europaweite politische Debatten) oder institutioneller Voraussetzungen wie europäischer Parteien. Fischer nennt drei demokratische Legitimitätsdefizite, welche seit der europäischen Finanz- und Schuldenkrise diskutiert wurden. Diese sind:

  • „Exekutivdominanz bei der Formulierung und der Aufbau intergouvernementaler Parallelstrukturen“(S. 422). Die Gesetzgebung der EU setzt sich aus einer mittelbaren (Rat) und einer unmittelbaren Institution (bspw. Europäisches Parlament) als Legitimationsquelle zusammen. Ebenso besitzt die EU-Kommission das Initiativrecht. Eine immer größer werdende Exekutivdominanz schmälert eine gemeinschaftliche Beschlussfassung. So werden die politischen Entscheidungen immer mehr in „geheimen Sitzungen und Verhandlungen der Regierungen“ (S. 422) getroffen.
  • „Schwächung der parlamentarischen Entscheidung und Kontrollrechte bei der Politikumsetzung“ (S. 422). Die WWU beruht auf zwei Säulen. Zum einen die supranationale währungspolitische Säule. Um die Wirksamkeit dieser „[...] neuen Economic Governance zu erhöhen, wurden auf Kosten der parlamentarischen Entscheidungs- und Kontrollrechte exekutive und technokratische Politikmuster gestärkt“ (S. 423). Somit kann die EU-Kommission im Rahmen der haushalts- und wirtschaftspolitischen Überwachungs- und Regelungsverfahren der nationalen Haushaltsplanung über die Schulter schauen. Werden Unstimmigkeiten sichtbar, so kann die EU-Kommission den jeweiligen Staat auffordern, einen überarbeiteten Haushaltsentwurf vorlegen. Desweitern senkt der Fiskalvertrag die Hürden für Sanktionen, sollten Haushaltspläne nicht eingehalten werden und beschneidet letztlich den Handlungsspielraum der nationalen Parlamente.
  • „Überdehnung der primärrechtlichen Kompetenzen und Delegation politischer Aufgaben an nichtmehrheitsgebundene Akteure“ (S. 425). Jede Kompetenzerweiterung der EU braucht eine primärrechtliche Grundlage. Jedoch besitzen die europäischen Organe „keine Kompetenz-Kompetenzen“. Somit können sie ihren Handlungsbereich nicht beliebig erweitern. Dies gilt ebenso für die Troika. Sie ist eine Zusammensetzung aus der EU-Kommission, IWF und EZB und besitzt keine demokratische Legitimation (vgl. S. 425). Ihre Aufgabe besteht darin, mit den Mitgliedsländern der Eurozone über Kreditprogramme zu verhandeln und dient als Überwachungsinstanz des ESM. Darüber hinaus üben sie auch Einfluss auf die nationalen Finanzinstrumente wie Lohn-, Tarif- und Rentenpolitik aus.

Lösungsvorschläge zur Steigerung der demokratischen Legitimität europäischer Governance

Es gilt nicht nur das Krisenmanagement zu verbessern, sondern auch dessen demokratische Legitimität sicherzustellen. Damit sollte auch das Vertrauen der europäischen Bürger*innen zurückgewonnen werden (vgl. S. 429). Hierzu schlägt Fischer vor: Erstens soll das Europäische Parlament in Form von Beteiligungs- und Entscheidungskompetenzen gestärkt werden. Dies allein reicht nicht aus, sondern die zwischenstaatlichen Verträge, wie der Fiskalvertrag oder ESM, sollen nicht nationale Gesetze und europäische Institutionen umgehen (vgl. S. 431).

Der zweite Punkt nach Fischer ist das stärkere Einbeziehen nationaler Parlamente in die europäischen Entscheidungen. Letztlich die Schaffung einer „echten“ Wirtschaftsregierung für die Eurozone mit einem eigenständigen „Eurozonenparlament“, einem EU-Finanzminister und eine „[...] stärkere Ausdifferenzierung der EU“ würde die WWU demokratisieren (S. 434).

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