Freitag, 9. Juli 2021

Finanzkrise und Demokratiedefizit der EU

In diesem Beitrag stellt Justin Bauer folgenden Aufsatz vor:

Wiesner, Claudia (2017): Möglichkeiten und Grenzen repräsentativer Demokratie in der EU-Finanzkrise; in: integration 01/2017, S. 52-66, online unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0720-5120-2017-1-52/moeglichkeiten-und-grenzen-repraesentativer-demokratie-in-der-eu-finanzkrise-jahrgang-40-2017-heft-1.

Die Autorin stellt in ihrem Text die Möglichkeiten und Grenzen repräsentativer Demokratie im EU-Mehrebenensystem dar. Dabei spielen die Steuerungsmechanismen in der EU-Finanzhilfenpolitik eine große Rolle, denn diese Mechanismen verstärken bereits bestehende Problemlagen und Herausforderungen im EU-Mehrebenensystem.

„Denn mit der zunehmenden europäischen Integration wird repräsentative Demokratie nicht mehr allein auf der EU-Ebene oder in den Mitgliedstaaten organisiert und ausgeprägt, sondern das Zusammenspiel der Ebenen beeinflusst repräsentative Demokratie potenziell im gesamten EU-Mehrebenensystem und in verschiedenen Wirkrichtungen.“ (S. 52)

Die Steuerungsmechanismen und die Institutionen, die zur Umsetzung der Euro-Finanzpolitik entwickelt und umgesetzt wurden, haben dabei kritische Auswirkungen auf die Qualität der repräsentativen Demokratie. So werden bereits bestehende Demokratiedefizite verschärft und weitere Steuerungsprobleme kommen hinzu.

Wiesner teilt ihren Text in drei Themenabschnitte ein und beginnt mit einer kurzen Rekapitulation der Demokratiedefizit-Debatte, anschließend folgt eine Diskussion der Auswirkungen der Steuerungsmechanismen von den Finanzhilfen und drittens geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der repräsentativen Demokratie in der EU-Krise, mit einem genaueren Blick auf die Umsetzung.

Die Frage, ob die Europäische Union eine demokratisch zu organisierende „polity“ sei, stellte man sich schon seit den 1990er Jahren. Da ging es los mit der Debatte zum Demokratiedefizit der EU. Laut Wiesner muss aber festgehalten werden, dass die EU nicht mehr am Anfang ihrer Demokratieentwicklung steht und trotz ihrer vorhandenen Defizite und Problemen das derzeit beste real existierende Beispiel einer supra- und transnationalen „polity“ mit einer repräsentativen Demokratie ist.

Wiesner stellt vier Argumente vor, die zum Teil auf das Spannungsverhältnis hinweisen, welches die europäische Integration für die Gewaltenteilung und Demokratie im Mehrebenensystem mit sich bringt. (vgl. S. 52-53)

  1. Die Notwendigkeit, die Europäische Union besser demokratisch zu legitimieren, da sie so weit integriert ist und stark in den Alltag ihrer Bürger eingreift.
  2. Auf EU-Ebene fehlt stellenweise die Transparenz und die klare Verantwortungszuschreibung für Entscheidungen, Entscheidungswege können durch mangelnde Öffentlichkeit oft schlecht nachvollzogen werden.
  3. Durch das Mehrebenensystem und der daraus resultierenden Integration liegt ein kontinuierlicher Zuwachs an exekutiven Kompetenzen vor, und ein Verlust an parlamentarischer Kontrolle kann festgestellt werden.
  4. Im Mehrebenensystem werden den Bürgern zunehmend Entscheidungen der demokratischen Willensbildung entzogen.

„Nach Verbesserungen durch die letzten Vertragsrevisionen und insbesondere den Vertrag von Lissabon haben sich diese Problematiken und Ungleichgewichte mit der Euro-Finanzhilfenpolitik wieder erheblich verschärft.“ (S. 53)

Wiesner verweist im Folgenden nun nochmals auf die Steuerungsstrukturen der Finanzhilfenpolitik und welche Problemfelder diese mit sich bringen. Sie betont aber, dass die EU-Finanzminister unter enormem Handlungsdruck standen, um einen Staatsbankrott Griechenlands zu verhindern. Die Entscheidungsspielräume waren zudem erheblich eingeschränkt. Laut Wiesner wurde damit die demokratische Substanz im EU-Mehrebenensystem insgesamt angegriffen. (vgl. S. 54)

Im letzten Teil ihres Textes stellt die Autorin Überlegungen an, inwieweit die Substanz einer repräsentativen Demokratie und einer Gewaltenbalance festgelegt werden muss bzw. wie diese umgesetzt werden kann.

„Insofern ist die Frage, inwieweit es gelingen kann, auch unter den Vorzeichen der EU-Finanzkrise tragfähige repräsentativ-demokratische Strukturen und Prinzipien im Mehrebenensystem zu schaffen und zu erhalten, statt lediglich ein intergouvernemental dominiertes Krisenmanagement zu nutzen. Wie lassen sich auf EU-Ebene wie auch auf nationaler Ebene sowie im Zusammenspiel des Mehrebenensystems schädliche Wechselwirkungen eindämmen?“ (S. 63)

Ein parlamentarisches System (wie es in fast allen EU-Staaten vorliegt) weist folgende Charakteristika auf:

  • Parlamente haben die legislative Funktion,
  • Wahl und Abwahl der Regierung bzw. die Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament,
  • Kontrolle der Exekutive.

Wiesner schließt daraus, dass Parlamente einen substanziellen Teil der Gesetze bestimmen, mit Blick auf die Euro-Krise auch natürlich Haushaltsgesetze, die Regierung muss dabei effektiv kontrolliert werden, sonst wären die Kernfunktionen des Parlamentarismus nicht mehr gegeben. (vgl. S. 64)

Daraus lässt sich ableiten, dass nicht an den Parlamenten vorbei entschieden werden soll, zudem sollte nicht ohne Kontrolle des Parlaments und ohne Rechenschaftsabgabe gehandelt werden. Repräsentative Demokratie besteht auf einer normativ-theoretisch begründeten Legitimationskette und daraus ergibt sich, wie die Ausrichtung der Politik legitimiert und begründet sein soll.

  • In der Verfassung festgelegte Staatsziele
  • Auf Grundlage der Verfassung in allgemeinen, freien und gleichen Wahlen die Zusammensetzung des Parlaments
  • Parlament beschließt Staatsziele und bestimmt die Regierung
  • Regierung führt auf Grundlage der Verfassung Beschlüsse des Parlaments aus und ist diesem gegenüber verantwortlich
  • Parlament ist in Wahlen wiederum den Wählenden gegenüber verantwortlich

Daraus ergibt sich nach Wiesner, dass nicht nur Entscheidungen über nationale Haushalte, sondern auch über nationale wirtschaftspolitische Ausrichtungen in der Entscheidungshoheit der nationalen Parlamente liegen müssen. (vgl. S. 65)

Möglichkeiten repräsentativer Demokratie in der Finanzhilfenpolitik

Konsequenzen in einer defensiven Lösung: Ergebnisse nationaler Wahlen dürfen nicht hinterfragt werden, solange sie nach den im Vertrag der Europäischen Union festgelegten demokratischen Prinzipien abliefen. Nationale Verfassungsgerichte sollten nationale Gewaltenteilung und demokratische Prinzipien schützen, ein Eingriff nationaler Parlamente in die Haushalte anderer Mitgliedsstaaten sollte eingeschränkt werden. Es sollte nur vorgegeben werden, wie viel zu sparen ist, und nicht, wo, also in welchen Politikbereichen.

Konsequenzen in einer offensiven Lösung: Das Europäische Parlament müsste in die Finanzhilfenpolitik miteinbezogen werden. Nicht-Euro-Staaten sollten nicht über die Euro-Finanzhilfenpolitik entscheiden dürfen. Ein Eurozonenparlament wäre denkbar, bestehend aus dem Europäischen Parlament und Mitgliedern der nationalen Parlamente aus der Eurozone (vgl. S. 66).

„Eine stärkere politische Integration der EU auch in diesem Bereich und eine bessere repräsentativ-demokratische Legitimation der Wirtschaftsintegration auf EU-Ebene mit klaren Kompetenzfestschreibungen und Mechanismen würden nicht nur die Demokratiequalität der EU verbessern, sondern könnten auch Steuerungsprobleme verringern, indem klare Funktionen und Rollen definiert würden.“ (S. 66)

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