Mittwoch, 7. Juli 2021

Fridays for Future und europäische Öffentlichkeit

In diesem Beitrag stellt Samuel Schaumann folgenden Aufsatz vor:

Huth, Tecla (2019): Fridays for Future – Entstehung einer supranationalen europäischen Öffentlichkeit?; in: Journal für korporative Kommunikation, Ausgabe 2/2019, S. 2-11, online unter: https://journal-kk.de/wp-content/uploads/2019/09/JkK-1902_final.pdf#page=3.

Der Aufsatz thematisiert den Beitrag der „Fridays for Future“-Bewegung zur Entstehung einer pan-europäischen Öffentlichkeit und beleuchtet die Entwicklung insbesondere vor dem Hintergrund des vielzitierten Demokratiedefizits der Europäischen Union, das (u.a.) als Folge einer fehlenden gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit gilt.

Huth skizziert einleitend die Bedeutung der Protestbewegung „Fridays for Future“, welche einen europaweiten politischen Diskurs markiert und hinsichtlich des vermeintlichen Auflösens des Legitimitäts- und Demokratiedefizits in ihrer demokratietheoretischen Dimension von großer Relevanz sei. (vgl. S. 2) Der Einsatz für mehr Klimaschutz und die Forderung nach einer klimapolitischen Wende seitens vieler junger Europäer*innen im Rahmen der Protestbewegung werden als leidenschaftlicher Beitrag zum politischen Prozess der EU beschrieben.

Des Weiteren erläutert Huth die Bedeutung der Öffentlichkeit innerhalb der Demokratietheorie aufgrund ihrer vermittelnden Funktion zwischen Gesellschaft und Politik. Somit werde im Diskurs um die Entwicklung der EU eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit angestrebt, um im Sinne einer gestärkten Legitimität solch eine Verbindung herzustellen:

„Auf EU-Ebene wird eine europäische Öffentlichkeit also gebraucht, um die Kluft zwischen EU-Institutionen und EU-Bürgern zu verringern und damit die EU-Legitimität zu stärken, so der allgemeine Konsens.“ (S. 3)

Die europäische Öffentlichkeit definiert Huth als europäischen Kommunikationsraum zur öffentlichen Thematisierung und Diskussion europäischer Themen. Sie führt zwei exemplarische Hindernisse einer europäischen Öffentlichkeit an: Politische Akteure der EU werden von vielen EU-Bürger*innen als weit entfernte, abstrakte Personen wahrgenommen und das „EU-Publikum“ (S. 3) setzt sich aus unterschiedlichen „nationalen Teil-Publiken“ (ebd.) zusammen.

Anschließend werden zwei unterschiedliche Modelle europäischer Öffentlichkeit mit konträren demokratietheoretischen Grundlagen vorgestellt, welche in der aktuellen Öffentlichkeitsforschung als zentrale Vorstellungen gelten. Die „Partikularisten des Nationalen“ auf der einen und die diskurstheoretisch basierte Form auf der anderen Seite.

Das erste Modell setzt für eine gemeinsame demokratische Öffentlichkeit eine verbindende kollektive Identität der EU-Bürger*innen voraus, während die Vertreter des zweiten Modells solch eine gemeinsame Identität dagegen als Ergebnis einer demokratischen und kommunikativen Praxis ansehen. Im Anschluss verweist die Autorin auf die Vereinbarkeit beider Modelle, indem sie die supranationale europäische Öffentlichkeit als Zielperspektive der Europäisierung einzelner nationaler Öffentlichkeiten beschreibt. (vgl. S. 3-5)

Zum aktuellen Forschungsstand bezüglich der Frage nach der Existenz einer europäischen Öffentlichkeit skizziert Huth ein zweigeteiltes Bild entlang der beiden beschriebenen Öffentlichkeitsverständnisse. So lasse sich empirisch bislang keine pan-europäische supranationale Öffentlichkeit mit geteilter kollektiver Identität im Sinne der „Partikularisten des Nationalen“ nachweisen, was anhand fehlender bedeutsamer pan-europäischer Medien der breiten Öffentlichkeit und national geprägter Berichterstattung verdeutlicht wird.

Doch wie aus vielen Studien hervorgehe, die beispielsweise eine zunehmend wichtigere Rolle der europäischen Politik in deutschen Medien nachweisen, ist die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, gekennzeichnet durch Vernetzung und europaweite Kommunikationsräume, eine empirisch belegbare aktuelle Entwicklung. (vgl. S. 5-6)

Anschließend geht Huth der Frage nach, welche europäische Öffentlichkeit die „Fridays for Future“- Bewegung hervorbringt. Aufgrund der Tatsache, dass nationale Medien europaweit ausgiebig und synchron Berichterstattung zur Protestbewegung betreiben und somit für die breite Bevölkerung eine kollektive Meinungsbildung und die Öffnung der nationalen Diskursräume ermöglichen, kann eine enorme Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten bestätigt werden.

Im Hinblick auf eine im engeren Sinne supranationale europäische Öffentlichkeit beschreibt Huth, dass „Fridays for Future“ viele junge Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern mit demselben Anliegen versammelt, wodurch eine europaweite Solidarisierung und ein kollektives Bewusstsein entstehe. Da die mediale Berichterstattung zur Protestbewegung nicht national, sondern europäisch ausgerichtet ist, wird ein pan-europäisches Problembewusstsein vermittelt und damit eine europäische Identitätsbildung gefördert. Die Autorin betrachtet diese Entwicklungen als Hinweise für die Existenz einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit und resümiert deshalb entgegen den bisherigen einschlägigen empirischen Befunden:

„Die Frage, ob die FFF-Bewegung zu der idealen Form europäischer Öffentlichkeit im Sinne eines einheitlichen supranationalen Kommunikationsraums führt, kann somit mit ‚ja’ beantwortet werden.“ (S. 8)

Abschließend bezieht Huth die Erkenntnisse auf das Problem des EU-Demokratiedefizits und hebt die „Fridays for Future“-Bewegung als Politikum hervor, welches erstmals einen supranationalen Diskursraum geschaffen hat, der eine gemeinsame europäische Identität ermöglicht. Da das Demokratiedefizit der EU als Resultat der fehlenden europäischen Öffentlichkeit und Identität betrachtet wird, gebe diese Erkenntnis Anlass, die Gültigkeit des Demokratiedefizits zu hinterfragen. Außerdem verweist die Autorin auf einen Bedeutungszuwachs der EU in der Wahrnehmung junger Menschen, welcher anhand der hohen Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019 ersichtlich wird (vgl. S. 8-9):

„Es scheint also, dass die Legitimität der EU und der EU-Institutionen durch die FFF-Bewegung gestiegen ist. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer europäischen Politik zur Lösung von Problemen ist da. Dies ist angesichts der steigenden EU-Skepsis sowie des europaweit aufkommenden Rechtspopulismus ein schöner Erfolg für Europa – und für die Demokratie.“ (S. 9)

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