Mittwoch, 7. Juli 2021

Europäische Solidarität in der "Flüchtlingskrise"

In diesem Beitrag stellt Janis Rosenfelder folgenden Text vor:

Bendiek, Annegret / Neyer, Jürgen (2016): Europäische Solidarität: die Flüchtlingskrise als Realitätstest, SWP-Aktuell 20/2016, online unter: https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2016A20_bdk_neyer.pdf.

Annegret Bendiek und Jürgen Neyer stellen in dem Artikel fest, dass die Krisen der 2000er und 2010er Jahre (u.a. die Finanz- und die sogenannte "Flüchtlingskrise") verdeutlicht haben, dass die Europäische Union eben keine Solidargemeinschaft darstelle und die Staaten in Krisensituation auf nationale Handlungsstrategien zurückgreifen.

Der EU-Vertrag, welcher auch als eine Art Verfassung verstanden werden kann, betont bereits in den ersten Artikeln die herausragende Bedeutung von solidarischem Handeln innerhalb der Staatengemeinschaft, aber auch über deren Grenzen hinweg. So heißt es in Artikel 3, dass nicht nur der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden soll, sondern auch „die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten" (S. 1). Der Vertrag zur Arbeitsweise der EU verweist noch einmal in Artikel 222, dass in Krisenfällen die Mitgliedsstaaten „im Geiste der Solidarität“ (S. 1) zu handeln haben. Diese Vorgaben bzw. Ansprüche der Union an sich selbst bleiben allerdings nur vage Leitbilder und lassen sich nur schwer in direkte Politiken übertragen.

Insbesondere die sogenannte "Flüchtlingskrise", welche 2015 ihren Höhepunkt erreichte, verdeutlichte, dass die Mitgliedsstaaten zum Teil in Krisensituationen eigenmächtig und mitunter ohne Rücksicht auf andere EU-Staaten reagieren. So schlossen unter anderem Ungarn, Slowenien, Österreich und Kroatien zeitweise ihre Grenzen und verlagerten „das Problem damit auf ihren nächsten südostwärts gelegenen Nachbarn“ (S. 2).

Die Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU, um Staaten wie Griechenland zu entlasten, verlief in den folgenden Jahren ebenfalls wenig erfolgreich, und einzelne Staaten, wie zum Beispiel Ungarn, fielen mit einer kategorischen Ablehnung in ein nationalorientiertes Verhaltensmuster zurück. Ein beträchtlicher Teil der EU-Mitgliedsstaaten ließ die Staaten an der EU-Außengrenze mit der großen Anzahl an Immigranten allein, wodurch diese auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei („EU-Türkei-Deal“) und den nordafrikanischen Staaten (u.a. Libyen) angewiesen waren und zum Teil immer noch sind. Um eine menschenwürdige Migration zu ermöglichen, ist die Europäische Union aber zwingend auf ein solidarisches Agieren aller Mitgliedsstaaten angewiesen, welche „nationale Egoismen hintenanstellen“ (S. 2).

Auch wenn die Europäische Union nach und nach mehr Politikbereiche supranational ausgestaltet, dominieren nach wie vor die Mitgliedsstaaten alle grundlegenden Entscheidungen, wodurch ein gemeinschaftliches solidarisches Handeln häufig erschwert wird. Beispielhaft dafür erwähnen die AutorInnen das Scheitern der europäischen Arbeitslosenversicherung aufgrund mangelnden Interesses bzw. mangelnder Solidarität der wohlhabenderen Staaten sowie die EU-Osterweiterung, welche auf politische und ökonomische Interessen zurückzuführen sei und eben nicht auf Solidarität oder andere soziale Aspekte.

Der kurze Rückblick auf die Geschichte der EU gibt somit wenig Anlass zur Hoffnung, dass die Staaten der EU sich auf einen gemeinsamen Solidaritätsbegriff einigen können, um derartige Krisen gemeinsam zu lösen. In der europäischen Diskussion konkurrieren derzeit drei Solidaritätsbegriffe: Das nationale Solidaritätsverständnis lässt solidarisches Denken und Handeln lediglich im nationalen Rahmen zu, da nur der Nationalstaat eine „Erinnerungs-, Erfahrungs- und […] Wertegemeinschaft“ (S. 3) bilde.

Das europäische Solidaritätsverständnis betont dagegen das gemeinsame Wertefundament Europas, wobei sich die Mitgliedsstaaten auf „Achtung und Weiterentwicklung gemeinsamer Normen [wie zum Beispiel Solidarität] verpflichtet haben“ (S. 3). Der nationale Solidaritätsbegriff ist somit mit dem europäischen unvereinbar.

Das kosmopolitische Solidaritätsverständnis stellt den dritten Solidaritätsbegriff dar. Es lehnt jede Ungleichbehandlung von Menschen ab und fordert eine kompromisslose Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention sowie eine enge Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen. Die kosmopolitische Ausrichtung fordert somit „allen Menschen gleichermaßen Zugang zu Asyl zu gewähren“ (S. 4) und die Situation in den Krisenstaaten aktiv zu verbessern, um Fluchtursachen zu bekämpfen.

Ein angemessener Umgang mit (zukünftigen) Flüchtlingen lässt sich somit aus europäischer Perspektive nur mit einer Kombination aus europäischer und kosmopolitischer Solidarität lösen, welche jede innereuropäische Grenzziehung entschieden zurückweist und ein gemeinsames Schutzsystem für Geflüchtete entwickelt.

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