In diesem Beitrag stellt Roman Strauß folgenden Aufsatz vor:
Herbert, Ulrich & Schönhagen, Jakob (2020): Vor dem 5. September. Die „Flüchtlingskrise“ 2015 im historischen Kontext; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 30-32/2020, S.27-36, online unter https://www.bpb.de/apuz/312832/vor-dem-5-september-die-fluechtlingskrise-2015-im-historischen-kontext.
Die Autoren nehmen in dem vorliegenden Beitrag die Ereignisse um den 5. September 2015 zum Anlass, um grundlegende Entwicklungen in der Asyl- und Migrationspolitik, vor allem in der Bundesrepublik, aufzuzeigen. (Politisches) Asyl, Internationale Flüchtlingspolitik, „Asylkompromiss“ und „Dublin“ sowie der „Arabische Frühling“ sind Themen, die in diesem Beitrag in ihren jeweiligen historischen Kontext gesetzt und analysiert werden.
Internationale Flüchtlingspolitik
Das Recht auf Politisches Asyl geht laut Herbert und Schönhagen in der Bundesrepublik auf die Jahre 1948/49 zurück, als dieses Recht in Artikel 16 ins Grundgesetz aufgenommen wurde (vgl. S. 28). In der Praxis wurde es allerdings kaum angewandt und wenn, dann nahezu ausschließlich auf Flüchtende aus den kommunistischen Staaten des Ostblocks, von denen jährlich im Durchschnitt 2000 bis 3000 ins Land kamen (vgl. S. 29).
Diese „selektive Gewährung von Asyl“ stand in Einklang mit der internationalen Flüchtlingspolitik nach 1945. Zudem waren sowohl die Hilfe der Vereinten Nationen geografisch (auf Europa) und zeitlich (auf vor 1951 geflohene Menschen) beschränkt als auch die Genfer Flüchtlingskonvention, die ursprünglich geografisch nur auf Europa beschränkt war und erst seit 1967 über Europa hinaus ausgedehnt wurde (vgl. S. 29).
Da die Fluchtbewegungen infolge des Zweiten Weltkriegs alle bis dahin gekannten Größenordnungen übertrafen, wurden die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) sowie die Internationale Flüchtlingsorganisation (IRO) geschaffen - an ihre Stelle trat später das UN-Flüchtlingskommissionariat UNHCR.
Die damalige kleine Institution UNHCR stieg insbesondere nach der Ungarnkrise 1956 und dem französischen Dekolonialisierungskrieg in Nordafrika zur zentralen Clearingstelle der internationalen Flüchtlingshilfe auf und erstand neu als ein auf Dauer angelegtes System mit universellem Mandat (vgl. S. 29). Die geografischen und zeitlichen Einschränkungen der Genfer Flüchtlingskonvention wurden aufgehoben, die finanzielle Basis des UNHCR war und blieb allerdings prekär (vgl. S. 30).
Politisches Asyl in der bundesdeutschen Praxis
Die Beschränkung des Politischen Asyls auf vornehmlich europäische Flüchtende aus kommunistischen Ländern kippte das Bundesverwaltungsgericht 1975 mit der Begründung, „[…] dass das Asylrecht keine Schranken kenne und die Ausländereigenschaft von Flüchtlingen diesen nicht zum Nachteil werden dürfe“ (S. 30). Der Artikel entfaltete somit eine nicht vorhergesehene universelle Wirkung.
Durch große Fluchtbewegungen aus dem Iran, Libanon und der Türkei um 1980 wurde der Begriff „Asyl“ erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Laut den Autoren entstand eine scharfe, teils hysterische Debatte, die für etwa zehn Jahre zu einem der beherrschenden Themen der bundesdeutschen Innenpolitik wurde: Befürworter einer Liberalisierung der Asylpraxis standen der damaligen Bundesregierung gegenüber, die an einer Ausweitung des Politischen Asyls nicht interessiert war (vgl. S. 30).
Nicht mehr die Krisen in der Türkei und im Nahen Osten, sondern der Zusammenbruch der kommunistischen Länder im Machtbereich der Sowjetunion wirkten sich verstärkt auf die Asylzahlen aus (vgl. S. 31). Die Zahl der „Ostflüchtlinge“ stieg seit 1980 deutlich an und fand ihren Höhepunkt in den Grenzöffnungen in Osteuropa seit 1989/90.
„Insgesamt kamen also zwischen 1986 und 2006 fast 8 Millionen Zuwanderer nach Deutschland, jeweils etwa 3 Millionen als Asylbewerber und als Aussiedler, überwiegend aus Osteuropa, sowie etwa 1,4 Millionen Zuwanderer aus den EU-Staaten, die in der EU Aufenthaltsrecht besaßen. Die Aussage vom Herbst 2015, noch nie seien so viele Zuwanderer nach Deutschland gekommen, muss also stark relativiert werden“. (S. 31)
„Asylkompromiss“ und „Dublin“
Die Unionsparteien hatten bereits seit 1988 gefordert, dass der stark zunehmende Zuwanderungsdruck nach Deutschland durch die Änderung des Grundgesetzartikels über die Gewährung von Politischem Asyl abgewehrt werden müsse (vgl. S. 31). Unter dem Druck vermehrter „ausländerfeindlichen“ Aktionen Anfang der 1990er Jahre bekam die Änderung des Asylartikels die benötigte Zustimmung. Asyl kann seitdem nur beantragen, wer nicht aus einem sicheren Drittstaat einreist (vgl. S. 32). Deutschland riegelte sich dadurch gegenüber einer Zuwanderung auf dem Asylweg ab und übertrug die Verantwortung auf die Staaten an den Außengrenzen der EU – und war damit nicht alleine:
„In dem Maße, in dem die Fluchtbewegungen zunahmen, hatten die Zielländer im Globalen Norden Mechanismen geschaffen, um Flüchtlinge abzuwehren“ (S. 32).
Durch das Schengener Abkommen und die Dublin-Verordnung waren seither vor allem Italien und Griechenlang am stärksten von ankommenden Flüchtenden aufgrund ihrer geografischen Lage betroffen, aber nur begrenzt in der Lage, entsprechende Grenzkontrollsysteme aufzubauen (vgl. S. 32). Zudem waren die Asylstandards in den verschiedenen EU-Ländern sehr unterschiedlich und unklar, was nach Registrierung der Flüchtenden mit ihnen geschehen solle, da Forderungen nach einem Solidaritäts- und Verteilungsmechanismus - auch von deutscher Seite - mehrfach blockiert wurden (vgl. S. 32).
Folgen des „Arabischen Frühlings“
Der Anteil wandernder Menschen an der Weltbevölkerung lag seit 1960 relativ stabil bei etwa 0,6 Prozent. Seit 2010 stieg er weltweit sprunghaft an – „ein entscheidender Auslöser für diesen Anstieg war der „Arabische Frühling“, durch den seit Anfang 2011 die autoritären Regime in Nordafrika von den Bevölkerungen ihrer Länder gestürzt wurden“ (S. 32).
Bis 2011 hatten die nordafrikanischen Regime die Durchreise von Migranten auf dem Weg nach Europa – meist in Absprache mit den europäischen Staaten und gegen erhebliche finanzielle Zuwendungen - weitgehend verhindert. So wurde Libyen nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis zum failed state, der seine Küsten nicht mehr kontrollieren konnte - die Zahl der nach Europa strebenden Migranten nahm deutlich zu (vgl. S. 33).
Die meisten Migranten aus dem subsaharischen Afrika wählten den Weg nach Europa über Libyen, von wo aus sie von Schleusern meist nach Süditalien gebracht wurden. Da es keine Vereinbarung über eine Verteilung der ankommenden Migranten in die anderen EU-Staaten gab, Italien diese aber aufgrund der Anzahl nicht im Land behalten und auch nicht zurückschicken konnte, wurden diese nicht registriert, sondern ihrem Schicksal überlassen. Die meisten von ihnen wurden somit nach Nordeuropa „durchgewunken“ (vgl. S. 34).
Der „Arabische Frühling“ fand seine schärfste Zuspitzung im syrischen Bürgerkrieg. Zwischen 2011 und 2015 mussten mehr als 12 Million Syrer fliehen. Die meisten von ihnen kamen zunächst in Massenlagern des UNHCR unter, die sich überwiegend aus freiwilligen Beiträgen finanzieren. Allerdings nahm das öffentliche Interesse in Westeuropa und der USA am syrischen Bürgerkrieg seit 2013 deutlich ab, weshalb die Geberländer ihre Beiträge an das Hilfswerk zum Teil erheblich reduzierten, was dazu führte, dass nur noch ein Drittel des UNHCR-Flüchtlingshilfeplans gedeckt war.
„Die westeuropäischen Länder lösten also durch die Kürzung der UNHCR-Gelder die Ausreisewelle nach Europa selbst mit aus.“ (S. 34)
Die Zahl der Flüchtenden stieg weiter an und mit der Überfahrt vom türkischen Festland zur nur zehn Kilometer entfernten griechischen Insel Lesbos ergab sich eine neue Option, die seit dem Frühjahr 2015 von Schleusern in großem Stil angeboten wurde (vgl. S. 34). Die schlecht ausgestattete und nicht gewillte griechische Behörde winkte die ankommenden Flüchtende vielfach nach italienischem Vorbild durch – die „Balkanroute“ war geschaffen.
August 2015
Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland lag von 2003 bis 2013 bei durchschnittlich 34.000 pro Jahr. 2014 stieg sie auf 173.000 und im Sommer 2015 erhöhte die Bundesregierung ihre Prognose für das gesamte Jahr auf 800.000 Flüchtende. Die überwiegend aus Syrien, dem Irak und aus Afghanistan stammenden Menschen kamen größtenteils über die Balkanroute nach Westeuropa. Bereits im Frühjahr 2015 hatte Viktor Orban angekündigt, den „Flüchtlingsstrom“ über die Balkanroute stärker einzudämmen (vgl. S. 27).
Herbert und Schönhagen analysieren den Sommer 2015 über die zu Symbolen gewordenen Bilder von Alan Kurdi und dem Lastwagen an der Autobahn 4 im österreichischen Burgenland mit 71 Toten, von der weitreichenden und vielfach missinterpretierten Anweisung des BAMF, dem „march of hope“ und dem noch weitreichenderen Beschluss Angela Merkels und des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Werner Faymann, aufgrund der Notlage die Flüchtenden aus Ungarn weiter nach Deutschland und Österreich reisen zu lassen. Diese Entscheidung gilt seither als Auslöser jener Entwicklung, durch die bis zum Sommer 2016 etwa 1,4 Millionen Flüchtende nach Deutschland einreisten (vgl. S. 34).
„Der 5. September 2015 wird zudem als Auftakt, jedenfalls als Verstärker einer Rechtsverschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und darüber hinaus angesehen.“ (S. 28)
Aufgrund der hohen Anzahl ankommender Flüchtender und dem zunehmend negativeren Bild in der Öffentlichkeit geriet die Bundesregierung immer mehr unter Druck und versuchte, Flüchtende an die anderen EU-Mitgliedstaaten weiterzugeben – jedoch ohne Erfolg. Auch die EU-Kommission konnte solch eine Lösung nicht erzwingen, mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Staaten führten zu keinem Ergebnis (vgl. S. 35).
Die meisten EU-Länder planten vielmehr, wieder Kontrollen an EU-Binnengrenzen einzurichten, was zur sofortigen Verstärkung der Fluchtbewegungen führte. Diese Befürchtung der Grenzschließung traf im Frühjahr 2016 ein: Die Balkanroute wurde geschlossen und verursachte erheblichen Rückstau in Griechenland, der die teilweise chaotischen Zustände in den grenznahen Flüchtlingslagern verstärkte (vgl. S. 35).
Am 19. März vereinbarte die EU-Kommission mit der Türkei das EU-Türkei-Abkommen, was – aufgrund der Schließung der Türkei- und Balkanroute – erneut zu einer Verlagerung des Fluchtgeschehens auf das Mittelmeer, von Libyen nach Italien, und zu steigenden Todeszahlen führte (vgl. S. 35).
Herbert und Schönhagen ziehen zum Schluss ihres Beitrags ein Fazit mit sechs Unterpunkten, in denen sie die verschiedenen historischen Entwicklungen bündeln, und machen zudem einen konkreten Vorschlag für die Zukunft: Um den Migrationsdruck einerseits und die Interessen der Zuwanderungsländer andererseits miteinander zu vereinbaren, schlagen sie eine Aufnahme von etwa einer halben Million Zuwanderer pro Jahr in die EU vor. Da dieser Vorschlag allerdings einen mehrheitlichen Konsens in den Mitgliedstaaten voraussetzt sowie auch die Vereinbarung einer einheitlichen Asyl- und Flüchtlingspolitik in der EU, „[…] ist aber vermutlich weder mit dem einen noch mit dem anderen zu rechnen“ (S. 35).
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