Samstag, 3. Juli 2021

Technokratie in der Gründungsphase und Demokratiedefizit

In diesem Beitrag stellt Miriam Nonnenmacher folgenden Text vor

Thiemeyer, Guido (2016): Das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven; in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1619.

Thiemeyer sieht die Frage nach der demokratischen Legitimation der Europäischen Union als Hauptproblem der politik- und rechtswissenschaftlichen Europaforschung. Er will durch einen geschichtswissenschaftlich orientierten Zugang die Debatte über das Demokratiedefizit bereichern. Dabei befasst er sich mit der Frage, welche Bedeutung die demokratische Legitimation in der Gründungsphase der EU hatte und warum die „Parlamentarische Versammlung“ in der EGKS und der EWG nur geringen Einfluss im Rechtssetzungsprozess hatte. Darüber hinaus wirft er die Frage auf, warum Europa mit dem Wort „Demokratie“ assoziiert wird und eine demokratische Verfassung als Beitrittskriterium für die Staaten gilt, obwohl die EU die Anforderungen selbst nur bruchstückhaft abdeckt.

Im Fokus seiner Überlegungen über die politischen Denkmuster steht das Geheimmemorandum des niederländischen Landwirtschaftsministers vom Juni 1953. Dieses ist unterteilt in einen politischen und agrarwissenschaftlichen Teil, dabei spielt für die Frage nach dem Demokratiedefizit die politische Argumentation eine übergeordnete Rolle. Die Überlegungen kreisen um eine wirtschaftliche Integration Europas mit dem Fokus auf dem landwirtschaftlichen Bereich. Dahinter verbarg sich das übergeordnete Ziel, Westeuropa durch eine wirtschaftliche und politische Stärkung gegen einen Angriff vor der Sowjetunion zu schützen.

Ein weiterer Aspekt war die Forderung nach einem neuen Prinzip der Supranationalität. Die Idee dahinter war, dass eine übergeordnete Gewalt Entscheidungen fällen kann, dadurch könnten notwendige und wichtige Entscheidungen nicht durch ein Veto von Teilnehmerstaaten verhindert werden. Thiemeyer erläutert, dass eine Öffnung der europäischen Agrarmärkte besonders im Interesse der Niederlande war, weil hier die landwirtschaftlichen Produkte ein Drittel des Gesamtexportes nach dem Krieg ausmachten. Dennoch beharrte der niederländische Landwirtschaftsminister darauf, dass die Öffnung für ganz Westeuropa gewinnbringend wäre.

Für Sicco Leendert Mansholt, einen bedeutenden niederländischen Politiker, verhinderten die Partikularinteressen der Nationalstaaten die europäische politische Integration. Deshalb war die Supranationalität ein Instrument, um langfristig im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln und die Partikularinteressen auszuschalten. Diese Formulierung von Mansholt empfindet Thiemeyer als wichtige politische Vorstellung, die oftmals in der Diskussion um die Motive der europäischen Integration unbeachtet bleibt.

Mansholt war der Meinung, dass die wirtschaftlichen Entscheidungen dem Allgemeinwohl verpflichtet sein und von einem Expertengremium getroffen werden sollten. Dabei sollten die Mitglieder der „Hohen Behörde“ unabhängig von Interessenverbänden und Wahlentscheidungen bleiben. Mansholt glaubte, dass das demokratische System die Politiker zwang, immer kurzfristige Vorteile für den nächsten Wahlerfolg zu suchen. Außerdem ging es in der frühen Phase darum, dass die Gemeinschaft autonom von demokratischen Verfahren schnell und effizient entscheiden kann. Hätte die Gemeinschaft für Kohle und Stahl ein mächtiges Parlament gehabt, hätte eine Blockade gedroht. In diesem Zusammenhang zitiert der Autor den Spaak-Bericht vom 21.04.1956:

„Wegen der Eilbedürftigkeit der Überprüfung und der Entscheidung ist das komplizierte Verfahren, das bei zwischenstaatlichen Beziehungen oder Organisationen angewandt wird, nicht möglich. Auch kann man sich nicht vorstellen, dass die Kontrolle über die Durchführung der von Staaten übernommenen Verpflichtungen und die Anwendung der Schutzklauseln von einem Votum der Regierungen abhängig sein sollten. Würde hierfür Einstimmigkeit vorgesehen, so könnte jeder Staat durch sein Veto das Verfahren lahm legen oder seine Zustimmung von gewissen Bedingungen abhängig machen, bei Mehrheitsentscheidungen bliebe die Gefahr, dass Interessenverflechtungen eine objektive Entscheidung verhindern.“

Dahinter verbarg sich die Ansicht, dass eine neu zu schaffende europäische Institution unabhängig arbeiten sollte, um effizient zu sein. Die Verhandlungen zwischen den Regierungen sollten im gemeinsamen Markt durch schnelle Entscheidungen durch eine von den Regierungen unabhängige supranationale Behörde ersetzt werden. Die Wirtschaftspolitik wurde dadurch teilweise dem demokratischen Prozess in den Mitgliedstaaten entzogen.

Auch (sehr viel später) die Europäische Zentralbank ist der demokratischen Kontrolle entzogen worden, nur das Ziel des Handelns ist vorgegeben; nämlich die Geldwertstabilität im Euroraum zu sichern. Ansonsten herrscht hohe Autonomie in politischer, institutioneller und personeller Hinsicht. Thiemeyer weist darauf hin, dass es diese Vorstellung einer dem Allgemeinwohl verpflichtenden „Expertokratie“ schon bei Platon gab. Diese beinhaltete die Einsicht einer legitimierten Herrschaft durch das Expertentum.

Nach Mansholt sind politische Entscheidungsprozesse in nationalen Systemen ineffizient und nicht immer am Allgemeinwohl orientiert. Hier zeigt sich für ihn ein grundsätzliches Problem der Demokratie, ein Effizienzdefizit durch Mehrheitsentscheidungen. Sein Kernanliegen war es, die Effizienz von politischem Handeln zu erhöhen. Thiemeyer erläutert:

„Hierhinter steht eine Einschätzung, die die Legitimität politischen Handelns nicht von Art der Entstehung einer politischen Entscheidung her betrachtet (Input), sondern vom Ergebnis dieses Handelns (Output). Es ist der Unterschied zwischen der „Herrschaft durch das Volk“ (Input) und jener „für das Volk“ (Output). Legitim ist eine politische Entscheidung also auch dann, wenn sie ein politisches Ergebnis erzeugt, das von der Mehrheit der Betroffenen als befriedigend betrachtet wird und es deswegen keinen breiten Widerstand gegen die Entscheidung gibt.“

Thiemeyer weist darauf hin, dass das Vertrauen in Experten als Leistungsträger für Fortschritt und Modernität hoch war und ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das niederländische Memorandum über die Landwirtschaftsintegration aus zwei Gründen bedeutsam für die europäische Integrationsforschung ist:

Erstens sollte die europäische Integration als Instrument aus wirtschaftspolitischer Hinsicht Defizite von nationalen demokratischen Systemen überwinden. Es sollten zeit- und kostenaufwendige Entscheidungsverfahren an nicht-politische Experten delegiert werden. Das heißt keine Input-Legitimation, sondern eine Output-Legitimation, in dem staatliches Handeln durch sein Ergebnis gerechtfertigt wird.

Und zweitens verdeutlicht Thiemeyer, dass diese Entwicklung zu dem führte, was heute als Demokratiedefizit wahrgenommen wird. Denn vorerst wurde die Output-Legitimation der EU von der Bevölkerung akzeptiert, aber mit der Vollendung des Binnenmarkts und der Zuständigkeit der Kommission für die Wettbewerbspolitik werden Grenzen der Akzeptanz erreicht. Thiemeyer stellt fest, dass dieses Problem auch nicht durch den Reformvertrag von Lissabon gelöst werden konnte.

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