Montag, 5. Juli 2021

Einordnung der Positionen zum EU-Demokratiedefizit

In diesem Beitrag stellt Patrick Flotta folgenden Aufsatz vor:

Schäfer, Armin (2006): Nach dem permissiven Konsens. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union; in: Leviathan 34, 3/2006, S. 350-376, online unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s11578-006-0020-0.pdf.

Armin Schäfer widmet sich in seinem Aufsatz der Grundthematik des Demokratiedefizits der Europäischen Union. Um dieses Defizit adäquat analysieren zu können, hat Schäfer eine Art Raster entworfen, welches die vorhandenen Konfliktlinien in Bezug auf diese Thematik verdeutlicht und die verschiedenen Sichtweisen in dieses Raster integriert. Er unterscheidet hierbei vier generelle Positionen mit verschiedenen Verortungen und Einstellungen: Optimisten, Pessimisten, Apologeten und Fatalisten.

Die Optimisten verstehen die Europäische Union als Chance zu mehr politischer und demokratischer Teilhabe und sehen diese auf einem guten Weg, sich als vollwertiges politisches System und supranationale Staatsinstanz für alle zu etablieren. Sie sehen dabei den bisherigen Werdegang der stetigen Integration als sinnstiftend und konsequent logisch an, welcher in der Folge durch eine fortschreitende Demokratisierung der Entscheidungsverfahren, Institutionen und Strukturen fortgesetzt werden wird. Forderungen der Optimisten für eine stärkere und robustere Demokratisierung politischer Verfahren sind u.a. die Direktwahl des Kommissionspräsidenten, die Auswahl der EU-Kommissare statt den Nationalstaaten dem Europaparlament zu überlassen, regelmäßige Volksabstimmungen zu bestimmten Gesetzesentwürfen sowie die Implementation von Kontrollgremien in Exekutivinstitutionen zur Herstellung von mehr Transparenz.

Die Pessimisten können im Vergleich zu den Optimisten als der zurückhaltende Konterpart und realistischere Gegenspieler verstanden werden, welche durchaus dieselben Ansichten teilen, jedoch nicht an deren Umsetzung glauben. Im Bezug auf den bisherigen Entstehungs- und Entwicklungsprozess der Europäischen Union sehen sie deren Staatswerdung im Kontext des historischen Prozesses. Das Hauptproblem der Pessimisten mit dem Konzept der eventuellen Staatswerdung der Europäischen Union bezieht sich auf die sequenziellen Prozesse von Demokratieverwirklichung und Sozialstaatsgestaltung. Diese haben sich historisch erst dann manifestiert, wenn eine Grenzziehung nach außen erfolgt ist. Der stetige Integrationsprozess der EU steht dieser nötigen Entwicklungssequenz zur etwaigen Staatswerdung diametral gegenüber, da dieser zu Grenzauflösungen und zum Abbau sozialen Schutzes in den Mitgliedsstaaten führt (vgl. S. 372).

Die Apologeten stehen der generellen Haltung der Pessimisten oppositionell gegenüber. Nach deren Verständnis sorgt der fortschreitende Integrationsprozess der EU auf allen Ebenen zu einer Macht- und Einflusssteigerung der Mitgliedsländer und zu einer Minimierung des jeweiligen Politikversagens. Als Basisargument dient hierbei die steigende Herausforderung von Staaten, globale Probleme effektiv adressieren zu können. Einzelstaaten werden es in der Zukunft immer schwerer haben, sich auf der globalen politischen Bühne Gehör verschaffen zu können, was eine Zugehörigkeit zu einem politischen Block wie der Europäischen Union unabdingbar macht und eine abgestimmte Gemeinschaftspolitik ins Zentrum des gesamtpolitischen Handelns rücken lässt. Im Gegensatz zu den Optimisten teilen die Apologeten den Wunsch nach einem fortschreitenden Demokratisierungsprozess nicht, sondern sehen eine weitere Politisierung und Parlamentarisierung der Europäischen Union als wenig sinnvoll für deren Effektivität und Handlungsfähigkeit an.

Die Fatalisten teilen gewisse Grundsätze der Apologeten, etwa die Unmöglichkeit der Etablierung einer effektiven Mehrheitsdemokratie sowie die Reduktion der Handlungsfähigkeit der EU aufgrund von demokratischen Reformen (vgl. S. 360). Nach Ansicht der Fatalisten wird die Europäische Union als Elitenprojekt verstanden, welches durch eine fortschreitende Demokratisierung gefährdet werden und die stetige Integration in ihrem Prozess beeinträchtigen könnte. Das Grundargument der Fatalisten ist hierbei die elementare Sinnstiftung des grundlegenden Demokratiedefizits für das Gesamtgerüst der Europäischen Union. Nach deren Verständnis sind die „Kontrolle der Eliten, die Intransparenz sowie die mangelhaften Teilhabechancen“ (S. 361) der Grund für die Effektivität und den Erfolg der EU und der europäischen Integration.

Schäfer bietet mit seiner Analyse einen interessanten Ansatz zur Einordung der verschiedenen Positionen zur Thematik des Demokratiedefizits in der Europäischen Union. Diese reicht von einem absolut positiven und stärker demokratieorientierten Ansatz der Optimisten hin zu einer grundlegend demokratieablehnenden und eher negativen Haltung der Fatalisten – was die große Bandbreite der Zukunftsvorstellungen zur EU verdeutlicht.

Unabhängig davon sieht sich die EU großen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Demokratiedefizit konfrontiert: Die steigende EU-Skepsis, sinkende Wahlbeteiligung sowie das grundlegende Dilemma der EU zwischen der Fortsetzung eines Eliten-Projekts und der Forderung nach mehr Massendemokratie. Welcher Ansatz nun der sinnvollste und effektivste sein wird, ist schwerlich auszumachen – weshalb es an uns, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern, liegt, die Frage nach weniger oder mehr Demokratie in der EU selbst zu beantworten.

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