In diesem Beitrag stellt Simon Casacchia folgenden Aufsatz vor:
Müller, Jan-Werner (2017): Ist die Europäische Union als wehrhafte Demokratie gescheitert? - Essay; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37/2017, S. 4-10, online unter: https://www.bpb.de/apuz/255601/ist-die-europaeische-union-als-wehrhafte-demokratie-gescheitert?p=all
Jan-Werner Müller beschreibt in seinem Essay aktuelle Probleme der EU, die vor allem die demokratische Ebene betreffen. Im Fokus stehen hierbei vor allem die beiden Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen. Die Regierungen dieser beider Staaten fallen gegenwärtig durch einen antiliberalen Regierungskurs auf. Müller benennt diese Probleme und stellt dabei die Frage, ob die Europäische Union in angemessener Art und Weise darauf reagiert; ob sie entsprechend dem Prinzip der wehrhaften Demokratie handelt. Neben diesen Ausführungen macht Müller auch einen Vorschlag, wie diese Probleme behandelt werden könnten - es handelt sich dabei um die Idee einer „Kopenhagen Kommission“.
Gleich zu Beginn stellt Müller in Frage, ob es sich bei der Europäischen Union überhaupt um eine Demokratie handelt. Er beurteilt dies als eine Frage, die aus guten Gründen angezweifelt werden kann. Zudem weist er aber darauf hin, dass die EU (nehmen wir einmal an, sie wäre keine Demokratie) trotzdem wehrhaft sein soll:
„...aber dass das Institutionengefüge, das der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors einmal als „unidentifizierbares politisches Objekt (UPO) bezeichnete, gegenüber politischen Feinden wehrhaft sein soll, das steht seit spätestens Ende der neunziger Jahre fest: Seinerzeit wurden spezifische Sanktionen für diejenigen Mitgliedsstaaten, die gegen gemeinsame europäische Grundwerte verstoßen, in die Verträge aufgenommen.“
Nach Müller ist jedoch im Falle der problematischen Entwicklungen in Ungarn und Polen bisher nichts unternommen worden. Als Begründung stellt er die These auf, dass mit zunehmender Demokratisierung der EU der Aspekt der Wehrhaftigkeit immer weiter abnehmen würde. Weiter führt er aus:
„Es bedarf einer unabhängigen, von parteipolitischem Druck möglich isolierten Institution, die über Europas Werte wacht; mein Vorschlag ist, diese neue Einrichtung `Kopenhagen - Kommission´ zu nennen.“
Im weiteren Verlauf des Essays geht Müller auf einige geschichtliche Aspekte ein, unter anderem zur Entstehung des Artikels 7 im Vertrag über die Europäische Union. Dieser Artikel wurde zum Schutz der Demokratie eingeführt, er ermöglicht es, dass eine Regierung innerhalb der EU mit dem Entzug der Stimme im Rat bestraft werden kann, sollte sie sich nicht an die Werte der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte halten.
Zudem wird darauf verwiesen, dass die EU in Bezug auf ihre Wehrhaftigkeit bereits im Vorfeld präventiv aktiv werden kann, wenn die Gefahr einer Verletzung von Grundwerten besteht. Die „Fundamental Rights Agency“ kommt ebenfalls zur Sprache - sie beobachtet kontinuierlich den Schutz der Menschenrechte in Europa.
Müller fokussiert die Fragestellung der wehrhaften Demokratie auf Ungarn und Polen. Ungarn geht unter Viktor Orbans Partei Fidesz den Weg einer politischen Umgestaltung in Richtung eines autoritären Systems. Hier sollte nun eigentlich die EU intervenieren, was jedoch nicht ausreichend geschehen ist. Dafür macht Müller drei Gründe verantwortlich:
Erstens einen Defätismus, durch den die Möglichkeiten zur Intervention nicht genutzt werden. Zweitens benennt er die Asymmetrie zwischen Brüssel und Budapest. Diese besteht nach Müller darin, dass es Brüssel an effektiven Maßnahmen und Mitteln jenseits von Artikel 7 fehlt. Als dritten Grund für die Passivität seitens der EU sieht Müller die Parteipolitik der EVP:
„Dies hatte jedoch auch zur Folge, dass die europäischen Christdemokraten sich immer wieder dezidiert hinter Orbán stellten - und Kritik an dem Mann, der sich stolz „illiberal“ nennt, als rein parteipolitisch zurückwiesen.“
Müller erklärt dann, warum eine Demokratisierung der EU (im Sinne einer Stärkung des Parlaments) zu einer demokratischen Schwächung führen kann:
„Zu Zeiten, als das Parlament noch eine weitgehend symbolische Funktion hatte, wäre es den Christdemokraten sicher viel leichter gefallen, Fidesz aus der EVP auszuschließen. Aber heute sind die Fidesz-Abgeordneten zum Erhalt der Mehrheit in Straßburg und Brüssel tatsächlich wichtig, und diese Mehrheit kann wirklich etwas bewegen.“
Im folgenden Abschnitt „Neue Instrumente“ geht Müller auf den neuen „Rechtsstaatmechanismus“ ein. Dieser wurde im Jahr 2014 eingeführt und kommt einem europäischen Frühwarnsystem gleich. Dieser „Rechtsstaatmechanismus“ befähigt die Kommunion, eigenständig und ohne das Mitwirken von Parlament und Regierung im Falle einer systematischen Gefährdung des Rechtsstaates durch einen Mitgliedstaat intervenieren zu können. Jedoch änderte nach Müller dieser neue Mechanismus nichts an der Tatsache, dass der Kommission letztlich trotzdem nur übrigblieb, im Ernstfall Artikel 7 auszulösen, und dies würde weiterhin als eine „nukleare Option“ nicht in Frage kommen.
Als weiteres Problem seitens der EU benennt Müller die Einstellung, dass die Europäische Union vehement davon ausgehe, alle beteiligten Akteure wären an einer friedlichen und sachlichen Lösung eines Problems interessiert, dass also durch Diskurse Probleme aus der Welt geschaffen werden könnten. Dass dies jedoch nicht der Fall ist, erklärt Müller am Beispiel Polen.
Die polnische Regierung habe in den letzten Jahren unter der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ einen höchst problematischen Kurs eingeschlagen, bei dem die Medien neu ausgerichtet, das Verfassungsgericht systematisch als Kontrollorgan ausgeschaltet und versucht wurde, der Justiz die Unabhängigkeit streitig zu machen. Die Maßnahmen, welche die EU daraufhin ergriff, zeigten wenig Wirkung, da sich die polnische Regierung schlicht nicht an die Aufforderungen hielt:
„Je aktiver Brüssel wurde, desto vehementer verteidigte Warschau die vermeintlich gefährdete polnische Souveränität. Das offensichtliche Gegenargument, dass Polen sich freiwillig dem EU-Club angeschlossen habe und dementsprechend auch die Club-Regeln einhalten müsse, wurde mit der Behauptung abgetan, die Mahnungen der Kommission seien von partikularen, liberalen Werten motiviert.“
Um diesen Problemen die Stirn zu bieten, schlägt Müller im letzten Abschnitt seines Aufsatzes die Etablierung einer „Kopenhagen-Kommission“ vor. Diese würde dann die Aufgabe übernehmen, Warnungen auszusprechen, sollte ein Mitgliedstaat einen problematischen Kurs einschlagen. Der Mitgliedsstaat muss dabei die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen und die Probleme nach sachlichen Gesprächen anzugehen. Sollte der Mitgliedsstaat jedoch nicht bereit sein, sich der Probleme anzunehmen, so sollte die Kommission die Europäische Kommission dazu veranlassen können, Fördergelder einzufrieren.
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