In diesem Beitrag stellt Gianluca Sarto folgenden Aufsatz vor:
Brasche, Ulrich (2020): Ever Closer Union? Wie sich die EU produktiv weiterentwickeln kann; in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 23-25/2020, S. 32-38, online unter: https://www.bpb.de/apuz/310569/wie-sich-die-eu-produktiv-weiterentwickeln-kann.
In seinem Text wagt der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule Brandenburg, Ulrich Brasche, einen Ausblick auf die Zukunft der Europäischen Union und ihre zukünftige Ausrichtung. Der Autor, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Integration und die Erweiterung der Europäischen Union gehören, beginnt seinen Beitrag mit einer Zusammenfassung der Aufgaben der EU und der Annahme, dass sie diese nicht mehr erfüllen kann. In Anbetracht der aktuellen Umstände, des Aufbaus der EU und der auf sie zukommenden Problemen sieht er erhebliche Mängel und geht in seinem Beitrag Lösungsansätzen nach.
Er fordert einen Fokus auf einen „europäischen Mehrwert“ und nennt drei Kriterien für diesen. Größenvorteile nutzen, um effizienter zu agieren, Gemeinschaftsgüter wie Sicherheit und Forschung zentraler machen und eine grenzüberschreitende Wirkung wie unter anderem bei Umweltthemen im Blick halten. Brasche äußert allerdings umgehend Bedenken, da die Vorstellungen der Bürger*innen der EU oftmals konträr sind. Dennoch erkennt er in vielen Bereichen, wie zum Beispiel bei der gemeinsamen Währung, Wettbewerbsaufsicht oder beim Warenaustausch, Erfolge und einen „europäischen Mehrwert“. Im Folgenden erklärt er, welche Probleme er trotzdem zu erkennen vermag.
„In vielen Politikbereichen bleibt auch auf nationaler Ebene der erwünschte Erfolg bislang aus. So sind weder die Beseitigung der großen regionalen Wohlstandsunterschiede noch die Bewältigung der Finanzkrise oder der aktuellen Infektionskrise noch die Steuerung der Konjunktur in den Mitgliedstaaten befriedigend gelungen.“ (S. 33)
Für dieses Problem macht er den Vergleich mit einer Versicherung auf, die nur funktioniert, wenn alle dieselbe Schadenswahrscheinlichkeit haben. Es kommt sonst „zu ungeplanten beziehungsweise politisch ungewollten Transfers“ (S. 33). Eine weitere Aufgabe erkennt er im Unterschied der einzelnen Mitgliederstaaten. Zwar leisten die Unterschiede auch viele positive Beiträge, bei der gemeinsamen Erstellung von Regeln und Lösungen sind sie aber laut Brasche auch gelegentlich hinderlich.
Als nächstes schreibt er über eine Transferunion, die ihren Wohlstand zum Beispiel in einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung aufteilt. Die benötigte demokratische Legitimität erwartet Brasche allerdings nicht. Der nächste Punkt knüpft an den vorherigen an und beinhaltet die Legitimität der Union und eine mögliche Republik. Abgesehen davon, dass eine einstimmige Zustimmung nicht realistisch ist, würde die Zahl der Probleme steigen und Entfremdung und separatistische Bewegungen fördern.
Anschließend erläutert der Autor, wie die EU sich selbst reglementiert und welche langwierigen Hürden das System dadurch oft überwinden muss, um Entscheidungen zu treffen. Darüber kommt er auf die wertvolle Frage, wie „können die EU-Staaten auf unvorhergesehene Krisen mit grenzüberschreitenden Wirkungen reagieren?“ (S. 35) An drei Beispielen beschreibt der Autor mögliche Handlungszenarien.
Die Finanzkrise konnte durch eine Troika aus Kommission, EZB und IWF und zwei Maßnahmen (ESM und Finanzaufsicht der EZB) stabilisiert und gemeinsam angegangen werden. Bei der sogenannten "Flüchtlingskrise" lief es weniger erfolgreich und man konnte sich nicht einigen. Ein Teil der Länder nahm Menschen auf, zu einer gemeinsamen Linie kam es aber nicht. Als drittes nennt Brasche die COVID-19-Pandemie und beanstandet eine fehlende Katastrophenvorsorge. Eine gemeinsame, ausgleichende Verteilung lief nur langsam an.
„Bisher wurde festgestellt, dass erstens ein weitreichender Transfer von Souveränität in eine "immer engere Union" weder erfolgversprechend wäre noch politisch erreichbar ist, zweitens die derzeitig vereinbarten Verfahren der Zusammenarbeit zu schwerfällig sind, und drittens die EU auf neue Herausforderungen und Krisen nicht angemessen reagieren kann. So kann die EU die Erwartungen, die an sie gerichtet sind, nicht erfüllen und droht weiter an Akzeptanz und Gewicht zu verlieren.“ (S. 36)
Ein möglicher Weg sei eine Flexibilisierung und Differenzierung der EU. Verpflichtend wären dann nur die Wertegemeinschaft und der Binnenmarkt. Prinzipiell gibt es eine solche Flexibilität auch bereits, nur wird sie bisher nicht nach Brasches Vorstellungen genutzt. Eine Lehre des Brexits soll ein stärkerer Fokus auf diese Flexibilität, zum Beispiel bei der Freizügigkeit von Arbeitskräften, die oft zu sozialen Verwerfungen führe, sein.
„Möglicherweise wäre die EU demokratischer und handlungsfähiger, wenn die Rückkehr zum Prinzip der Einstimmigkeit im Rat mit einer erleichterten Option zur Kooperation von Teilgruppen der Mitgliedstaaten kombiniert würde. Dies wird im Folgenden skizziert.“ (S. 36)
Ein Ansatz sind „offene Clubs“, die für einzelne Themenbereiche temporär gebildet werden, um untereinander Verträge zu schließen. Die Macht läge allein bei den Teilnehmern des Clubs. Ein nachträglicher Beitritt sollte dennoch möglich sein. Eine Idee, die konträr zu den Ever-Closer-Union Ansätzen steht. Die offenen Clubs sollen aber lediglich eine ergänzende Möglichkeit bieten, die EU als Wertegemeinschaft muss stets die Basis bleiben. Brasche nennt auch spezifische Politikfelder, für welche Clubs gegründet werden dürfen. Dazu gehören unter anderem Infrastruktur, Klimawandel und Energieversorgung, Asyl und Migration oder Geheimdienste und Terrorismus.
Der Autor beschreibt auch Gefahren, die er in den Clubs sieht. In seinem Fazit fasst Brasche die Vorteile seines Ansatzes zusammen und beschreibt, wie unter anderem das populistische Bild Brüssels als des Bösewichts durch die Clubs entzerrt werden könnte. Es könnte zu schnelleren Ergebnissen kommen, wenn sich eine „Koalition der Willigen“ bildet. Abschließend pocht Brasche auf das Interesse am Fortbestand der EU und plädiert dafür, „immer wieder gangbare Lösungen zu finden.“ (S. 38)
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