Im Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020 stellt das Gericht Kompetenzüberschreitungen seitens der EZB und des EuGH fest: Das Staatsanleihenkaufprogramm PSPP bedinge wirtschaftliche Konsequenzen, die nicht ausreichend abgewogen wurden. Dafür wird das Urteil teils harsch kritisiert.
An Sensationalismus war die mediale Resonanz auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 schwer zu überbieten. Ein Umstand, der angesichts des vordergründig doch eher trockenen juristischen Sachverhalts verwundert. So betitelten gleich mehrere Zeitungen das Urteil als Paukenschlag. Die Financial Times spricht gar von einer Bombe, die das Bundesverfassungsgericht unter die Europäische Rechtsordnung gelegt hätte (vgl.
hier). Aber worin genau liegt die Sprengkraft des Urteils, was ist der konkrete Sachverhalt und wie wurde die „Bombe“ entschärft
?
Der Sachverhalt: Die geldpolitische Strategie der EZB
Auf Grundlage des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist es das vorrangige Ziel der Europäischen Zentralbank bzw. des Europäischen Systems der Zentralbanken, Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten (z.B. Art. 282 Abs. 2 AEUV). Darunter verstanden wird eine Inflationsrate, die sich unter, aber nahe 2% bewegt. Um dieses Ziel zu erreichen, verfügt die EZB über eine geldpolitische Strategie, die sich auf zwei Säulen stützt:
Einerseits soll durch eine wirtschaftliche Analyse beurteilt werden, wie sich realwirtschaftliche Bedingungen (gesamtwirtschaftliche Produktion im Zusammenhang mit Angebot und Nachfrage etc.) auf die Preisentwicklung auswirken. Andererseits wird durch die monetäre Analyse der langfristige Zusammenhang zwischen verfügbarer Geldmenge und Preisen untersucht. Beide Säulen stützen die geldpolitischen Instrumente, die der EZB zur Verfügung stehen. Eines dieser Instrumente stellen geldpolitische Sondermaßnahmen dar, zu denen auch das Rahmenprogramm des Expanded Asset Purchase Programme (EAPP) gehört. Teil des EAPP wiederum ist das im Urteil des BVerfG betroffene Public Sector Purchase Programme (PSPP) der EZB (vgl. Verbeken et al. 2019).
Das Ziel des EAPP ist dabei mittels quantitativer Lockerung (wird
hier kurz erklärt) die Inflationsrate auf besagtem Niveau zu halten und dadurch Konsum und Investitionen in der Eurozone zu fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, nehmen die Europäischen Zentralbanken Anleihen an Vermögenswerten auf, um so die Geldmenge zu erhöhen und den Zinssatz auf ein niedriges Niveau zu drücken. Als Teil des EAPP ermöglicht das im März 2015 beschlossene PSPP speziell den Kauf von Staatsanleihen europäischer Mitgliedstaaten und macht mit 2.088.100 Millionen Euro den weitaus größten Teil des 2.557.800 Millionen schweren Gesamtvolumens des EAPP aus (vgl. BVerfG 2020).
Der Konflikt: Das Urteil des BVerfG
Eben jene Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm bezeichnet das BVerfG im Urteil vom 5. Mai 2020 als kompetenzwidrig und kritisiert eine fehlende Prüfung der Verhältnismäßigkeit der geldpolitischen Intervention. In der Feststellung einer „Kompetenzwidrigkeit“ liegt zugleich die Grundlage für die Rechtszuständigkeit des BVerfG, das als nationales Verfassungsgericht im Unionsrecht eigentlich dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) untergeordnet ist, der in eben dieser Rechtssache bereits im Dezember 2018 urteilte und kein Mandatsübertritt der EZB feststellen konnte.
Damit wäre der Rechtsweg eigentlich erschöpft, das umgeht das BVerfG aber, indem es sowohl in den EZB-Beschlüssen als auch in dem darauf bezogenen EuGH-Urteil eine Kompetenzüberschreitung sieht: beides sei ultra-vires (also außerhalb des vertraglichen Kompetenzbereichs) ergangen. Auf Grundlage der Tatsache, dass die Mitgliedsstaaten die „Herren der Verträge“ sind, sieht das BVerfG eine solche Ultra-Vires-Kontrolle der Unionsorgane als begründet an (vgl. BVerfG 2020, o.S.).
Worin sieht das BVerfG Mandatsüberschreitungen seitens der EZB und des EuGH?
Nach Ansicht des Verfassungsgerichts überschreitet die EZB den durch den AEUV zugewiesenen währungspolitischen Auftrag, da das PSPP nicht nur geldpolitische, sondern auch weitreichende wirtschaftspolitische Auswirkungen habe:
„Zu den Folgen des PSPP gehören zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen sind“ (BVerfG 2020).
Nach Ansicht des Gerichts hätte eine angemessene Abwägung der währungspolitischen Ziele und der damit verbundenen wirtschaftspolitischen Folgen unter „Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten“ (BVerfG 2020) stattfinden müssen. Auch im Urteil des EuGH wären die wirtschaftspolitischen Folgen außer Acht gelassen worden, weshalb sich dieses gleichermaßen als ultra-vires qualifiziere.
Im Rahmen der Feststellung einer Kompetenzüberschreitung der Unionsorgane verpflichtet das BVerfG die Bundesregierung und den Bundestag, der bisherigen Handhabung des PSPP entgegenzutreten und auf eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit seitens der EZB hinzuwirken. Nach einer Frist von drei Monaten sei es der Bundesbank untersagt, weiterhin am PSPP teilzunehmen, sofern die EZB bis dahin die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht nachvollziehbar darlege (vgl. BVerfG 2020).
Und nun? Worin liegt die Sprengkraft des Urteils?
Wie bereits in der Einleitung angedeutet, stieß das BVerfG-Urteil auf teils heftige Kritik, die sich auf verschiedene Sachverhalte bezog:
Auf einer inhaltlichen ökonomischen Ebene kritisiert Schmieding, das Urteil beruhe auf einem unvollständigen und somit falschen Verständnis von Geldpolitik (Schmieding 2020, o.S.). Ein falsches Verständnis deshalb, da die wirtschaftlichen Folgen des PSPP keine „unerwünschte Nebenwirkung“, sondern der wesentliche Wirkungskanal der Geldpolitik sei. Ebenso sei der niedrige Zinssatz in einem größeren Bedingungsfeld zu bewerten, der Einfluss der EZB-Geldpolitik sei nur einer mehrerer (auch global wirkender) Faktoren.
Den Vorwurf der fehlenden Transparenz über die Abwägung der Verhältnismäßigkeit seitens der EZB entkräftet der Autor mit Verweis auf die regelmäßig stattfindenden Pressekonferenzen und die Publikationen der EZB. Auch die Einschätzung des EZB-Beschlusses als ultra-vires teilt Schmieding nicht, da eben diese Abwägung nicht Teil des vertraglich gesicherten Mandatsbereichs sei (vgl. ebd.). In einer ähnlichen Weise kritisiert Fricke das Urteil, das nach seiner Einschätzung nur durch die exklusive Konsultation orthodoxer Wirtschaftsprofessoren zustandekommen konnte, die in Bezug auf die Staatsanleihekaufpolitik eine fachliche Minderheitenmeinung vertreten würden (vgl. Fricke 2020, o.S.).
Weitaus schwerer wiegt die Kritik auf einer (rechts-)politischen Ebene: Durch die Einstufung des EuGH-Urteils als Kompetenzüberschreitung stellt sich das BVerfG gegen die europäische Rechtsprechung und schwächt damit die europäische Rechtsarchitektur. So befürchtet Gammelin eine negative Vorbildwirkung des deutschen Gerichtshofs auf die Rechtsdurchsetzung des EuGH in Ungarn oder Polen, wo sich bereits zuvor fehlende Bereitschaft zur Compliance abzeichnete. Für Europa sei das Urteil eine schlechte Nachricht (vgl. Gammelin 2020). Wie recht Gammelin mit ihrer Einschätzung liegt, zeigt die Stellungnahme des polnischen Justizministeriums, das das BVerfG-Urteil als Bestätigung ihres EuGH-feindlichen und demokratieabbauenden Kurses betrachtet (vgl. Puhl 2020, o.S.).
Dieser Brisanz scheint sich das BVerfG bewusst gewesen zu sein, da es in der Pressemitteilung ausführlich die Entscheidung zu einem Ultra-Vires-Verfahren vor dem Hintergrund einer Gefährdung der einheitlichen Unionsrechtsanwendung begründet (vgl. BVerfG 2020). Ebenso verweisen Finke et al. relativierend darauf, dass das Ultra-Vires Konstrukt ein häufig genutztes und im Kern demokratisches Verfahren darstellt (vgl. Finke et al. 2020). Problematisch erscheint demnach nicht das Ultra-Vires-Verfahren an sich, sondern die gegenwärtigen europapolitischen Rahmenbedingungen und speziell die in Osteuropa beobachtbaren rechtsstaatlichen Erosionstendenzen, die die Rezeption des BVerfG-Urteils bedingen.
Die Entschärfung der „Bombe“
Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung der Financial Times, das BVerfG habe eine Bombe unter das europäische Rechtssystem gelegt, nicht mehr allzu abwegig. Es ist wohl auch dieser Sprengkraft auf die Rechtsdurchsetzung der EuGH-Jurisdiktion zu „verdanken“, dass der Konflikt bereits vor dem Erlöschen der durch das BVerfG gesetzten Frist beigelegt werden konnte. Nachdem die EZB entsprechende Dokumente zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit des PSPP übermittelt hatte, stimmte der Bundestag am 2.7.2020 mehrheitlich dafür, die Bestimmungen des BVerfG-Urteils als erfüllt anzusehen (vgl.
hier). Freilich bleiben dadurch die rechtspolitischen Konsequenzen des Verfassungsgerichtsurteils noch offen: Wie schwer der Schaden für die europäische Rechtordnung tatsächlich wiegt, wird sich noch zeigen.
Literatur