Montag, 25. Mai 2020

Ein mehrdimensionaler Blick auf die EU in der Corona-Krise

Betrachten wir die historische Entwicklung der Europäischen Union, so wird schnell deutlich, dass sich deren Struktur sowie Zuständigkeiten mit den an sie gestellten Herausforderungen geformt hat. In der aktuellen Berichterstattung zur Corona-Krise werden häufig die Eurokrise und die immer noch aktuelle Flüchtlingskrise als Beispiele herangezogen, um aufzuzeigen, dass das europäische Projekt im Ernstfall nicht funktioniere. Doch sind es nicht genau diese Krisen der Vergangenheit, an denen die europäische Idee gewachsen ist? Wo liegen die eigentlichen Wurzeln dieses supranationalen Staatenbundes? Welche Maßstäbe legen wir an, um eine Beurteilung des gemeinsamen Krisenmanagements vorzunehmen?

Rüttgers und Decker (2017) beschreiben die Geschichte der europäischen Integration als eine Abfolge von Krisen, aus denen die Gemeinschaft die richtigen Lehren und neue Stärke gezogen hat. Einer der Gründerväter, Jean Monnet, hatte bereits zu Beginn prognostiziert: „Europa wird in den Krisen geschmiedet werden. Und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein", die es formen werden.

Bis zu welchem Grad der Integrationsprozess zu einer Verbesserung beiträgt, wird öffentlich kontrovers diskutiert. Überzeugte Europäer stimmen bereits den Abgesang der Nationalstaaten an, wie wir sie aus den letzten Jahrzehnten kennen. Es ist die Rede davon, nationale Grenzen zu überwinden und globale Herausforderungen auch ihrer Tragweite entsprechend zu lösen. Auf der anderen Seite werden Stimmen laut, die der EU seit der in den 1990er Jahren vorgenommenen Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufnahme von acht (zu denen später noch weitere hinzukamen) mittelosteuropäischer Länder eine Überforderung bzw. Überdehnung diagnostizieren (Decker & Rüttgers, 2017).

Was wir in den letzten Jahren zweifelsfrei beobachten konnten, ist die wachsende Zustimmung für europakritische populistische Akteure, welchen es vermehrt gelingt, die EU für zentrale nationale Probleme verantwortlich zu machen. Die Spitze dieser Entwicklung stellte der Beschluss Großbritanniens zu einem Ausstieg aus der EU dar. Mehr zum Thema Populismus in der EU findet man hier.

Timm Beichelt (2017) beschäftigt sich in seinem Beitrag unter anderem mit der Anatomie der europäischen Krisenpolitik und liefert interessante Erkenntnisse. Er wirft dabei einen Blick auf die Diagnose, der EU fehle es an der nötigen zwischenstaatlichen Solidarität, um Krisen gemeinschaftlich bewältigen zu können. Dies wird dadurch begründet, dass aufgrund unterschiedlicher Interessen zum Teil gegenläufige Ziele verfolgt werden. Wie jedoch auch auf nationaler Ebene, zeichnet sich ein demokratisches politisches System gerade durch das Austragen von Konflikten aus. Nach Beichelt sind sie es, die die Voraussetzung und untrennbare Essenz von Demokratien darstellen.

Er geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet Konflikte, sofern diese in Form legitimer Auseinandersetzungen stattfinden, als weitere Demokratisierungsschübe für die EU, wodurch zusätzlich deren Legitimation gestärkt wird. Die dabei wiederkehrenden Konfliktlinien lassen sich ebenso in nationalen Kontexten erkennen. Im Fall der Europolitik „[…] geht es um die Verteilung von Wohlstand und Entwicklungschancen innerhalb einer wirtschaftlich heterogenen Gemeinschaft […]“ (Beichelt, 2017, S. 96). Bei der Flüchtlingspolitik stellt sich die Frage nach der eigenen kulturellen Identität und wie weit eine Gesellschaft bereit ist, sich für vermeintlich Fremdes zu öffnen.

Die Covid-19-Pandemie stellt die EU aktuell vor ihre bisher größte Herausforderung. Vor allem die Mehrdimensionalität ihrer Auswirkungen und Folgen ist hierfür verantwortlich. Neben der zu erwartenden starken wirtschaftlichen Rezession, gesundheitspolitischen Themen und dem bereits viel diskutierten Solidaritätsdefizit birgt die Corona-Krise sowohl Chancen als auch Gefahren für den Fortbestand der EU. Im Folgenden werden die angesprochenen Dimensionen nun genauer betrachtet, wobei der Fokus auf der Abbildung einer mehrperspektivischen Darstellung liegen soll.


Die Dimension der Wirtschaft

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise sind enormen Ausmaßes und werden uns wohl noch für längere Zeit beschäftigen. Aktuell geht die EU-Kommission von einem beispiellosen Einbruch der Wirtschaft um 7,7% in der Eurozone aus. Alle EU-Länder sind davon betroffen und werden den Einschätzungen von Vize-Kommissionspräsident Valdis Dombrovskis zufolge in diesem Jahr eine Rezession erleben. Für die insgesamt 27 Mitgliedsstaaten wird ein durchschnittliches Minus von 7,5% beim Bruttoinlandsprodukt vorausgesagt, im kommenden Jahr ein Wachstum um etwa 6%.

Der wirtschaftliche Schock in der Eurozone ist insofern symmetrisch, als die Folgen der Pandemie alle Mitgliedstaaten treffen und Schäden verursachen werden. Unterschiede gibt es jedoch in der Schwere der Folgen, sowie in der Stärke des erwarteten Aufschwungs für 2021. So wird für das in der Vergangenheit ohnehin schon gebeutelte Griechenland ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 9,7% erwartet, in Polen muss laut Prognosen mit „nur“ 4,3% gerechnet werden.

Ein ähnliches Bild ist bei der Entwicklung der Arbeitslosenquote in der EU zu erwarten. Die Quote wird 2020 auf etwa 9% steigen und dann auf rund 8% im Jahr 2021 sinken. Auch hier lassen sich regionale Unterschiede beobachten. Der geographische Süden, welcher stärker vom Tourismus abhängig ist, sowie Länder mit hohem Anteil von Arbeitnehmer*innen mit befristeten Kurzzeitverträgen werden die Auswirkungen der Corona-Krise stärker zu spüren bekommen. Paolo Gentiloni, EU-Kommissar für Wirtschaft, weißt in seinem Statement auf der Homepage der EU-Kommission auf die Bedrohung für den gesamteuropäischen Binnenmarkt hin:
„Solche Divergenzen stellen eine Bedrohung für den Binnenmarkt und das Euro-Währungsgebiet dar, können aber durch entschlossenes gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene abgemildert werden. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.“ (Link zur Quelle)
Die zwischenstaatliche Interdependenz in der EU-Wirtschaftszone verlangt also ein gemeinschaftliches Vorgehen, um die Zukunft des Binnenmarktes sicherzustellen. Die Vorstellungen einzelner Staaten, wie diese Maßnahmen konkret auszusehen haben, unterscheiden sich zum Teil sehr und werfen weitere grundlegende Fragen innereuropäischer Solidarität auf.

Frankreich, Spanien und Italien argumentieren vehement für den Einsatz sogenannter Coronabonds, die vergleichbar mit den 2008 geforderten Eurobonds sind. Dies wären Anleihen, die von EU-Staaten, nicht von der EU selbst, gemeinsam aufgenommen würden. Aus Sicht der Anlieger handelt es sich dabei um festverzinsliche Wertpapiere mit der Eignung zur privaten Geldanlage. Befürworter der Bonds sehen den Vorteil in einer besseren Bonität an den Kapitalmärkten, als sie ein Land wie Italien beispielsweise allein hätte. In Folge dessen wäre auch der Zinssatz bei Coronabonds niedriger.

Die Ursache für diesen Zinsvorteil ist dabei jedoch das große Aber finanzstärkerer Länder. Bedingt durch ihre bessere Bonität, haften sie gesamtschuldnerisch für andere Länder mit, falls diese bei der Rückzahlung ausfallen sollten (Quelle: Deutschlandfunk). Die gegenseitige Haftung, so ein Argument der ablehnenden Staaten wie Deutschland, Finnland, Österreich und den Niederlanden, wird bereits durch Artikel 125 (1) des EU-Vertrags ausgeschlossen. Hier heißt es im Wortlaut:
„Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.“ (Link zur Quelle)
Als Alternative soll hauptsächlich der, nach der letzten Finanzkrise eingerichtete, Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) für die Bereitstellung von Hilfskrediten genutzt werden. Der entsprechende Vertrag trat im Jahr 2012 in Kraft. Ziel des ESM ist es, finanziell in Schwierigkeiten geratenen Mitgliedstaaten der Eurozone Hilfen über verschiedene Finanzierungsinstrumente zur Verfügung zu stellen, wodurch gleichzeitig die Stabilität des EU-Währungsgebiets gewahrt werden soll.

In der Theorie funktioniert der ESM wie folgt: Nachdem ein Mitgliedstaat Finanzhilfen aus dem ESM beantragt hat, folgt eine Bewertung der Notwendigkeit durch die Europäische Kommission in Absprache mit der Europäischen Zentralbank und gegebenenfalls dem Internationalen Währungsfonds, auch Troika genannt. Bei dieser Bewertung spielen drei wesentliche Aspekte eine Rolle. Liegt durch die finanzielle Notlage des Antragsstellers eine Gefahr für die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets als Ganzes vor? Ist die jeweilige Tragbarkeit der Staatsverschuldung gegeben? Letztendlich erfolgt noch eine Bewertung darüber, wie hoch der tatsächliche Finanzierungsbedarf des Landes ist und in welcher Form gegebenenfalls der Privatsektor beteiligt werden kann.

Nachdem die Finanzhilfe durch den Gouverneursrat des ESM grundsätzlich gewährt wurde, ist es anschließend an der Europäischen Union, an die Finanzhilfe gekoppelte wirtschafts- und finanzpolitische Bedingungen gemeinsam mit dem betreffenden Land auszuhandeln (Link zur Quelle).

Im milliardenschweren Rettungspaket der Eurogruppe spielt der ESM nun eine zentrale Rolle. Es sollen Kreditlinien im Umfang von bis zu 240 Milliarden Euro bereitgestellt werden, deren Bedingungen die Eurogruppe, unter der Leitung von Mario Centeno, an den aktuellen Notstand angepasst hat. Anders als ursprünglich vertraglich festgelegt, besteht die einzige Bedingung für Kreditvergabe darin, dass die Gelder tatsächlich für direkte und indirekte Kosten für die Gesundheitsversorgung, Heilung und Vorsorge im Zusammenhang mit Covid-19 verwendet werden dürfen.

Das große Gegenargument der Befürworter von gemeinsamen Anleihen, wonach Kredite aus dem ESM stets an hohe Auflagen gebunden wurden, ist damit entkräftet. Vor allem Italiens Regierung, getrieben durch den rechtspopulistischen Druck Matteo Salvinis, hatte seither in sehr mythologischer Art und Weise die eigene Souveränität in Gefahr gesehen.

Komplettiert wird das insgesamt mehr als 500 Milliarden Euro schwere Rettungspaket mit Hilfen für Kurzarbeiter im Programm „Sure“ und den Mittelstandskrediten der Europäischen Investitionsbank (Link zur Quelle). Eine rasche Einigung über das Rettungspaket wäre wünschenswert, doch noch sind die juristischen und politischen Hürden hoch. Es handelt sich dabei zwar nicht um gesamtschuldnerische Coronabonds, dennoch würde sich die EU erstmals als Gemeinschaft verschulden, um ausgewählten Mitgliedern zu helfen.

Die Mittel sollen über den EU-Haushalt in Form von projektbezogenen Zuschüssen vergeben werden. Dadurch hätten gerade die Länder, die gut und erfolgreich wirtschaften, einen großen Teil zu tragen. Es gilt vor allem, die Kritiker aus Österreich, Schweden, Dänemark und der Niederlande von diesem Akt der Solidarität zu überzeugen, welche sich bisher noch schwer damit tun, in diesem Ausmaß finanziell für wirtschaftlich schwächere Nationen aufzukommen (Link zur Quelle). 

Die Dimension des Gesundheitswesens

Viele erinnern sich noch immer schmerzlich an die schrecklichen Bilder aus Norditalien, wo Lkws der Armee Leichen von Covid-19-Opfern aus den Städten abtransportierten, weil die örtlichen Krematorien bereits überfüllt waren. Es wird deutlich: die Coronakrise stellt in erster Linie eine Gefahr für das Leben von Menschen dar. Das zu schützen, muss das oberste Ziel von nationalen Regierungen sowie der Europäischen Union als Ganzes sein. Deshalb werfen wir nun einen Blick auf die unterschiedlichen Strategien, mit dem Virus umzugehen, und im besonderen auf die Rolle der EU bei der Bewältigung der Corona-Krise als gesundheitliche Krise.

Die Ausbreitung einer globalen Pandemie hängt von unzähligen Faktoren ab und ist nur schwer für den realen Ernstfall zu simulieren. Dennoch haben sowohl einzelne Staaten als auch der Staatenverbund der Europäischen Union Notfallpläne inklusive Notreserven an medizinischem Material, um für Krisen gewappnet zu sein. Dass diese im Fall des Covid-19-Virus nicht ausreichend waren, ist hinlänglich bekannt. Akute Maßnahmen zum Schutz der eigenen Bevölkerung musste zunächst jedes Land für sich organisieren. Die Schwierigkeit liegt hierbei darin, dass es sich um ein bisher unbekanntes Virus handelt, dessen genaue Auswirkungen nicht komplett vorausgesagt werden können.

Zudem spielte nach Meinung einiger Experten*innen der Faktor Glück eine Rolle, wie stark eine Gesellschaft getroffen wurde und immer noch wird. Ein Extrembeispiel stellt dabei Italien dar. Das Virus konnte erst entdeckt werden, nachdem sich bereits eine große Zahl an Menschen mit dem Virus infiziert hatte. Dadurch kam es besonders in den nördlichen Regionen des Landes zu einer raschen Ausbreitung mit überlastenden Folgen für das Gesundheitssystem. Länder wie Deutschland, die durch das Beispiel Italien bereits vorgewarnt waren, konnten den Ausbruch durch frühe Tests besser kontrollieren und frühzeitig Maßnahmen ergreifen.

Die EU hat ihrerseits durch finanzielle Soforthilfen sowie Maßnahmen zur Unterstützung medizinischer und gesundheitlicher Natur bisher versucht, ihren Teil zur Eindämmung des Virus und seinen Folgen für nationale Gesundheitssysteme beizutragen. Das Soforthilfeinstrument hat ein Finanzvolumen von 2,7 Milliarden Euro aus Mitteln der EU. Es soll eine Ergänzung zu nationalen und europäischen Maßnahmen zur Bewältigung der Krisensituation im Bereich der öffentlichen Gesundheit darstellen.

Zudem wurden als weitere Soforthilfemaßnahmen bereits 1,5 Millionen medizinische Masken an 17 Mitgliedstaaten und Großbritannien zugestellt, um das Personal im Gesundheitswesen zu schützen. Insgesamt sollen durch die von der Kommission finanzierte Bestellung 10 Millionen Masken im Rahmen des Soforthilfeinstruments zur Verfügung gestellt werden (Weitere Informationen zum Soforthilfeinstrument der EU-Kommission).

Da uns die Covid-19-Pandemie wohl noch über einen längeren Zeitraum oder zumindest so lange, bis ein wirksamer Impfstoff in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht, beschäftigen wird, wurden zusätzliche Instrumente zur Sicherstellung der Materialversorgung eingerichtet. Durch die Vereinbarung über die gemeinsame Beschaffung soll den EU-Mitgliedstaaten sowie Großbritannien und Norwegen der gemeinsame Erwerb benötigter Geräte und Materialien ermöglicht werden. Dies geschah mit einer Beteiligung von bis zu 25 Mitgliedstaaten seither in drei Stufen für Handschuhe und OP-Textilien, persönliche Schutzausrüstung sowie Beatmungsgeräte und für Laborausrüstung und Diagnosesets.

Ein weiterer Bereich von großer Bedeutung ist die Zusammenarbeit mit den europäischen Herstellern von persönlicher Schutzausrüstung. Um Produktionskapazitäten zu optimieren, wurden interessierten Unternehmen sämtliche einschlägigen harmonisierten europäischen Normen kostenlos und uneingeschränkt zur Verfügung gestellt, wodurch diese in der Lage sind, die benötigten Güter ohne Einschränkungen bei den hohen europäischen Gesundheits- und Sicherheitsstandards herzustellen. Diese Maßnahme soll ebenfalls zu einer ausreichenden Versorgung der Mitgliedstaaten führen.

Am 2. April war der offizielle Start der EU-Initiative „Solidarität im Dienst der Gesundheit“. Zur direkten Unterstützung der nationalen Gesundheitssysteme werden im Rahmen dieser Initiative rund 6 Milliarden Euro bereitgestellt. Der Betrag setzt sich zur Hälfte aus nicht abgerufenen Mitteln des EU-Haushalts und zur Hälfte aus zusätzlichen Beiträgen der Mitgliedstaaten zusammen. Mit Hilfe der Initiative werden medizinische Hilfsgüter als Soforthilfen verteilt, Transporte von medizinischem Gerät und Patienten mitfinanziert und medizinische Versorgung der Gesundheitssysteme unterstützt (Link zur Quelle). 

Europäische Solidarität in der Coronakrise

Grenzschließungen, Ausfuhrstopps von Schutzkleidung, das Hamstern medizinischer Güter. Die ersten Reaktionen vieler Länder in der Eurozone sprechen auf den ersten Blick nicht gerade für eine stark ausgeprägte Solidarität innerhalb der EU - wenn es Ernst wird, ist sich plötzlich jede*r selbst am nächsten. Vorwürfe wie dieser waren zu Beginn der Coronakrise aus unterschiedlichen Richtungen zu vernehmen. Deutschlands Außenminister Heiko Maas ist im Interview mit dem Auswärtigen Amt darum bemüht, die Ereignisse zu Beginn der Krise zu relativieren:
„Es lag außerhalb unseres rationalen und emotionalen Vorstellungsvermögens, was eine solche Pandemie für unser soziales und wirtschaftliches Leben bedeuten würde. Das ist die Wahrheit. Daher hat es eine Weile gedauert, nationale und europäische Maßnahmen aufeinander abzustimmen.“
In der Tat: Die seither getroffenen Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene sprechen eine andere Sprache. In einem fünfseitigen Factsheet (Link zum Download) schildert die EU-Kommission, welche Formen gelebter Solidarität zum jetzigen Zeitpunkt durch sie selbst und ihre Mitgliedstaaten zum Tragen gekommen sind. So haben sich Länder gegenseitig bei der Behandlung von Intensivpatienten unterstützt. Ärzte und Pflegepersonal aus Rumänien wurden nach Bergamo und Mailand entsendet, um das dortige Gesundheitssystem zu entlasten. Die EU hat ihren Einsatz im Rahmen des Katastrophenschutzverfahrens kofinanziert und koordiniert.

Zudem haben sich EU-Staaten untereinander mit dringend benötigten medizinischen Materialien ausgeholfen. Auch viele im Ausland gestrandete Bürger*innen konnten sich auf solidarische Hilfe durch das Katastrophenschutzverfahren verlassen: 60 000 Menschen wurden mit Hilfe des Katastrophenschutzverfahrens der EU wieder sicher nach Hause gebracht.

Also doch alles in bester Ordnung?

Zumindest nur teilweise aus der Sicht von Hilfsorganisationen in griechischen Flüchtlingslagern. Dort werden die hoch gepriesenen europäischen Werte aktuell leider mehr oder weniger mit Füßen getreten. Seit Wochen warten zehntausende Geflüchtete auf die erhofften Evakuierungsmaßnahmen der EU. Die ohnehin schon bedenklichen gesundheitlichen Bedingungen in den teilweise massiv überfüllten Lagern drohen sich im Zuge der Corona-Krise weiter zu verschlechtern. Bekundungen, sich der Lage auf Lesbos und anderen ägäischen Inseln bewusst zu sein, folgte bisher nur ein medizinischer Container am Eingang des Camp Moria, in dem infizierte Menschen isoliert und behandelt werden könnten. Erik Marquardt, EU-Parlamentarier der Grünen, äußert im Gespräch mit der Tagesschau seine Bedenken über die Situation:
"Das ist also bisher die Antwort der griechischen Regierung darauf, dass sich dort in Windeseile 20.000 Menschen mit diesem Virus infizieren könnten, wenn es dort ankommt. Und das belastet ja nicht nur das Camp, wo mit Hunderten Toten zu rechnen wäre, auch das Gesundheitssystem auf der Insel wird dann völlig überlastet sein."
Als „humanitäre“ Reaktion hat die EU-Kommission bisher Pläne diskutiert, nach denen 1600 besonders gefährdete Kinder und unbegleitete Minderjährige aus Moria evakuiert werden sollen. Diese Geste kann jedoch lediglich als solche eingeordnet werden und stellt noch keine Lösung des Problems dar. Die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik sorgt bereits seit 2014 vermehrt für Diskussionsstoff. In Folge der Corona-Krise wird lediglich einmal mehr deutlich, welches Konfliktpotenzial in der Thematik steckt.

Fazit

Die Corona-Krise bringt in diversen Bereichen sowohl Chancen als auch Gefahren mit sich. Für die EU als Gesamtkonstrukt lassen sich meiner Meinung nach zwei Gedankenspiele konstruieren. Zum einen könnten nationale Abschottungsprozesse europakritischen Akteuren in die Karten spielen und entsprechende Denkmuster in den Köpfen der Menschen manifestieren.

In Ungarn hat Regierungschef Viktor Orban einen Beschluss durch das Parlament gebracht, nach dem er per Dekret regieren kann. Allgemein werden in Ungarn und Polen schon seit einiger Zeit Grundfreiheiten wie die Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt. Diese Tendenzen stellen eine große Gefahr für die Demokratie in der Europäischen Union dar.

Auf der anderen Seite besteht nun die Möglichkeit, Ungleichheiten in Wirtschaft und Gesundheitswesen nachhaltig abzubauen, da in Folge der Corona-Krise wieder das Schicksal der Menschen in den Vordergrund gerückt ist. Anhand der skizzierten Dimensionen wurde deutlich, dass globale Herausforderungen zukünftig auch globale Lösungen erfordern. Diese Entwicklung könnte zu einem Demokratisierungsschub und mehr Solidarität innerhalb der EU führen.

Der aktuell durch öffentliche Debatten geschaffene politische Raum zeigt, dass Probleme innerhalb der EU auch in demokratischen Prozessen mit der nötigen Transparenz gelöst werden können. Zudem wurde in unterschiedlichen Bereichen sichtbar, wie groß die gegenseitige Abhängigkeit der Mitgliedstaaten ist. Wie diese nun durch die nationalen politischen Systeme und Bevölkerungen interpretiert wird, könnte richtungsweisend für die Entwicklung der EU nach der Corona-Krise sein.

Die zentrale Frage dabei scheint zu sein, was für ein Europa wir zukünftig haben wollen. Stärken wir den gemeinsamen politischen Raum weiter und installieren die dafür nötigen Instrumente? So wären zum Beispiel grenzüberschreitende Wahlprozesse denkbar. Schließlich wirken sich Beschlüssen der EU auch gesamteuropäisch aus. Oder gelingt es populistischen Anti-Europäern*innen, den Demokratieabbau durch nationale Abschottung weiter voranzutreiben?

Die jüngsten Entwicklungen rund um die Corona-Krise stimmen aus Sicht überzeugter Europäer*innen zuversichtlich. Über langfristige Auswirkungen lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt jedoch nur spekulieren. 

Literatur
  • Beichelt, T. (2017). Zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Interessen: Die europäische Politik im Kontext der Flüchtlingskrise. In F. Decker & J. Rüttgers (Hrsg.), Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für Europäische Union (S. 89-102). Frankfurt am Main: Campus Verlag.
  • Decker, F. & Rüttgers, J. (2017). Was ist los mit Europa? In F. Decker & J. Rüttgers (Hrsg.), Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für Europäische Union (S. 9-14). Frankfurt am Main: Campus Verlag. 
Online-Quellen

1 Kommentar:

  1. Hallo Dennis,
    Dein Beitrag belichtet alle relevanten Argumente und Punkte zu den jüngsten Entwicklungen von CovidSars2 in der EU. Ein sehr stimmiger & ausgewogener Beitrag!
    Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Viele Grüße, Uli

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